Innovative Werkstoffprüfung zur Risserkennung an Glocken

Plitzner, M. – Hochschule Kempten

Glocken sind Musikinstrumente, die bei der Klangerzeugung, insbesondere beim Läuten, hohen Beanspruchungen ausgesetzt sind. Nicht selten wurden und werden daher an Glocken Schäden festgestellt, die auf zu hohe Belastungen und ungünstige Anschlagskonditionen zurückzuführen sind. Solche Schäden äußern sich durch Ermüdungsrisse (Abb. 1) aufgrund zu hoher Klöppelanschlagsintensität oder starken Abtrag aufgrund von Schlagverschleiß an den Klöppelanschlagstellen (Abb. 2). Im Gegensatz zum Schlagverschleiß, der augenscheinlich erkennbar ist, und auf den daher mithilfe adäquater Methoden reagiert werden kann, sind Ermüdungsschäden im Allgemeinen erst dann mit den gängigen Methoden der Werkstoffprüfung feststellbar, wenn die Ausdehnung des Schadens den Klang der Glocke bereits nachhaltig verändert oder sogar zerstört hat. Einzig die akustische Resonanzprüfung bietet sich als Verfahren an, eine methodische Grundlage für eine angepasste Werkstoffprüfung für Glocken zu liefern, ist jedoch für eine direkte Anwendung ungeeignet, da Glocken als Unikate hergestellt werden und daher keine allgemeingültigen Nenn- oder Grenzwerte definiert werden können.

Die Grundlage für die Bewertung von Glocken besteht in der systematischen Analyse ihres Schwingverhaltens ausgehend vom mess- und wahrnehmbaren Glockenklang. Trotz der Vielfalt in Form und Größe können typische Gemeinsamkeiten im Schwingverhalten festgestellt werden, die eine Vergleichbarkeit und ein analoges Verfahren ermöglicht. Dennoch besitzt jede Glocke durch ihre je eigene Form eine musikalische Stimmung, die sich durch die Anzahl der einzelnen Töne und deren Zusammenklang charakterisieren lässt, und je nach Glockengießer und Epoche unterschiedlich ausfällt. Darüber hinaus wird das Schwingverhalten durch die herstellungsbedingten Besonderheiten sowie die individuellen gestalterischen Elemente beeinflusst, was die Einzigartigkeit jeder Glocke auch im Klangverhalten bedingt.

Das Schwingverhalten von Glocken ist aufgrund der komplexen Glockenstruktur von der Überlagerung vieler Eigenfrequenzen geprägt (Abb. 3) und wird zudem beeinflusst durch herstellungsbedingte Insuffizienzen im Material wie Lunker, Schwindungsrisse und Porosität sowie durch die Gestaltung der Glocke wie Inschriften und Bildnisse. Besonderen Einfluss auf das Schwingverhalten besitzt darüber hinaus das sogenannte Modensplitting, das bei rotationssymmetrischen Strukturen beobachtet werden kann. Demnach treten alle den Klang bestimmenden Eigenformen der Glocke doppelt auf, wobei sich die paarweise zusammengehörenden Partialeigenformen über den Umfang verdreht positionieren. Bei idealer Rotationssymmetrie sind die Eigenfrequenzen der jeweiligen Partialeigenformen identisch, bei Abweichungen von der Rotationssymmetrie aufgrund von Störstellen spalten sich die Eigenfrequenzen auf.

Anhand von Simulationen und mithilfe von Messungen an realen Glocken lassen sich die Einflüsse von Störstellen auf das Schwingverhalten von Glocken analysieren.

Schadensbedingte klangliche Phänomene können dabei von herstellungs- und formbedingten Einflüssen unterschieden und hinsichtlich ihrer Ausdehnung qualitativ bewertet werden. Dazu dient eine integrale Darstellung, in der die komplexen Zusammenhänge der Schwingungsphänomene der Glocke in einer Abbildung kompakt zusammengefasst werden (Abb. 4).

Durch wiederholte Klangmessungen kann die Zuverlässigkeit einer frühzeitigen Detektion von Ermüdungsrissen zusätzlich gesteigert werden, da sich durch die andauernde Beanspruchung und die damit verbundene Ausbreitung von Rissen auch das Schwingverhalten kontinuierlich ändert, während die herstellungsbedingten und gestalterischen Störstellen qualitativ unverändert bleiben. Schließlich ermöglichen die schwingungsdynamischen Eigenschaften des Modensplittings auch die Lokalisierung von Störstellen. Durch die gezielte Anregung von Glocken über den Umfang kann deren Position aufgrund des lokal abweichenden Schwingverhaltens zuverlässig ermittelt werden (Abb. 5).

Das entwickelte Verfahren wird als „musikalischer Fingerabdruck von Glocken“ bezeichnet, da ausgehend vom Klang das einzigartige Schwingverhalten einer Glocke umfassend beschrieben wird. Der musikalische Fingerabdruck ersetzt somit das für die akustische Resonanzprüfung fehlende Referenzobjekt der jeweils als Unikat hergestellten Glocke und ermöglicht dadurch eine zerstörungsfreie Prüfmethodik zur Risserkennung, die geeignet ist, selbst solche Risse zu detektieren, die noch zu keinen hörbaren Klangveränderungen führen. Durch Anwendung der vorhandenen Erkenntnisse zur Schonung und Lebensdauerverlängerung, wie etwa die Möglichkeit des Drehens von Glocken, kann so ein weiterer Rissfortschritt gestoppt oder stark verlangsamt werden, so dass ein Weiterbetrieb geschädigter Glocken möglich ist. Darüber hinaus eignet sich das Verfahren zur Qualitätsprüfung neuer oder reparierter Glocken.

Plitzner_Abb. 1

Glocken mit Ermüdungsriss (Farbeindringverfahren)

Plitzner_Abb. 2

Glocken mit Ermüdungsriss (Farbeindringverfahren)

Plitzner_Abb. 3

Eigenform der Glocke

Plitzner_Abb. 4

Musikalischer Fingerabdruck von Glocken

Plitzner_Abb. 5

Anregung einer Glocke über den Umfang

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