Die Bundesregierung hat ihre aktuelle Corona-Strategie nicht klar kommuniziert.
In einem außergewöhnlichem Schritt haben nun die vier großen außeruniversitären Forschungsinstitutionen, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft eine gemeinsame Stellungnahme zur Corona-Lagebewertung und zur Corona-Strategie in Deutschland verfasst (hier der Link zum PDF der Kurzversion und zur Langversion als PDF).
Dabei wird darauf hingewiesen,
- dass die Lage bei R nahe 1 nicht stabil ist,
- dass R bis zur Verfügbarkeit einer Impfung unter 1 gehalten werden müsse,
- dass Herdenimmunität durch kontrollierte Durchseuchung kein gangbarer Weg sei – es dauert zu lange (Bem: und wird damit auch teuer), fordert zuviele Opfer, es besteht Unsicherheit über mögliche Spätfolgen und über die Dauer der Immunität -,
- dass die komplette Ausrottung des Virus nur in einer internationalen Anstrengung möglich sein kann.
Daher wird als aktuell einzig gangbarer Weg die „konsequente Eindämmung“ vorgeschlagen:
- Zuerst innerhalb von einigen Wochen eine weitere Reduktion der Neuansteckungen erreichen, durch ein R möglichst deutlich kleiner 1.
- Nach Erreichen einer niedrigen Zahl N an Neuinfektionen, die eine effektive Nachverfolgung der möglichen Ansteckungen (+Quarantäne) erlaubt, sind Lockerungen der Kontaktbeschränkungen möglich.
Zusätzlich zu (1.) konsequenten Hygienemaßnahmen, (2.) dem Ausbau von Nachverfolgungs- und Testkapazitäten schlägt das Papier auch vor, ein (3.) Frühwarnsystem aufzubauen, in dem regelmäßig Querschnittstests gemacht werden, damit neue Ausbrüche früh erkannt und eingedämmt werden können.
Bemerkung: Das RKI nannte zuletzt wenige hundert Neuinfektionen pro Tag als die Kapazitätsgrenze der Gesundheitsämter für die Nachverfolgung – und nannte diese Zahl auch als Ziel für N.
Bemerkung (11.5.2020): Die Bundesländer sind den Empfehlungen aus der gemeinsamen Stellungnahme von Fraunhofer, die Helmholtz, Leibniz und Max-Planck nicht gefolgt, sondern haben inzwischen noch weitergehende Lockerungsmaßnahmen beschlossen (Friseure, Geschäfte, Fußball, Gruppen,…) – leider ohne eine gleichzeitige Informationskampagne für ein besseres freiwilliges Eindämmungsverhalten. Inzwischen berechnet das RKI ein R leicht oberhalb von 1 (sowie ca. 1000 neuen Fällen pro Tag und ca. 25000 aktiven Infektionen), so dass eine Rückkehr zu einem exponentiellen Anstieg der tatsächlichen und gemessenen Fallzahlen nicht ausgeschlossen ist.
Bemerkung (16.5.2020): Eine Rückkehr zu exponentiellem Wachstum des Infektionsgeschehens ist bislang glücklicherweise vermieden worden, das RKI weisst inzwischen wieder eine Reproduktionszahl leicht unterhalb von 1 aus, genauer 0,88 (mit geglätteten Daten „7-Tage-R-Wert“: 0,89).
Bemerkung: Das ifo-Institut und das Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung nun erstmals wirtschaftliche und epidemiologische Folgen von verschiedenen Corona-Szenarien gemeinsam betrachtet (Zitat von Seite 1):
„Das zentrale Ergebnis unserer Analyse lautet, dass sowohl eine Verschärfung der Beschränkungen, wie sie während der Maßnahmen bis zum 20. April 2020 in Deutschland vorlagen, als auch eine zu starke Lockerung zu höheren wirtschaftlichen Kosten führen. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine leichte, schrittweise Lockerung der Beschränkungen den Weg mit den niedrigsten wirtschaftlichen Kosten darstellt. In unseren Berechnungen fallen die Kosten bei einer leichten Lockerung (Reproduktionszahl Rt = 0,75) gegenüber dem Status quo (Rt = 0,627). Bei einer zu starken Lockerung (Rt = 1) müssten die Beschränkungen hingegen so lange bestehen bleiben, dass die wirtschaftlichen Kosten über den gesamten Zeitraum der Jahre 2020 und 2021 insgesamt höher ausfallen würden. Die Strategie umsichtiger, schrittweiser Lockerungen ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesundheitspolitisch vorzuziehen. Die erwartete Zahl der Todesfälle würde bei schneller Öffnung deutlich höher ausfallen. Je langsamer die Öffnungen durchgeführt werden, desto geringer sind die langfristigen Opferzahlen. Es zeigt sich insofern, dass es in Bezug auf eine starke Lockerung der Maßnahmen keinen Konflikt zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Kosten gibt – aus beiden Blickwinkeln betrachtet ist eine zu starke Lockerung (Rt >= 1) nicht wünschenswert.Alternativ betrachten wir ein Szenario, in dem die Reproduktionszahl solange auf 1 gehalten wird, bis ein Impfstoff verfügbar ist. Es wird also nicht angestrebt, die Zahl der Neuinfektionen weiter zu senken, sondern auf dem gegenwärtigen Niveau zu halten. Diese Strategie erlaubt mehr Lockerungen, führt aber insgesamt wegen der langen Dauer der verbleibenden Beschränkungen zu deutlich höheren wirtschaftlichen Kosten als etwas restriktivere Wege, die mit einer umsichtigen schrittweisen Öffnung einhergehen. Auch die Zahl der Todesopfer nimmt in diesem Szenario im Vergleich zu Szenarien mit Reproduktionszahlen unter 1 überproportional zu. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Todesopfer bis zur Einführung eines Impfstoffes oder wirksamen Medikaments auf einem konstant hohen Niveau bleibt, wenn sich die Infektionszahlen in der Bevölkerung nicht reduzieren.“
Bemerkung (20.05.2020): Ein aktueller Science-Artikel untersucht den Einfluss der Corona-Maßnahmen auf die Virusausbreitung in Deutschland. Die Autoren verwenden dabei ein einfaches SIR-Modell (s.o.).