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11. Juni 2020 – Oliver Rheinbach

Welche Corona-Eindämmungsmaßnahmen reduzieren R um wieviel?

Wir haben bisher hier vor allem Worst-Case-Szenarien betrachtet, also ein R zwischen 2 und 3. Das ist nicht realistisch, selbst wenn alle staatlichen Maßnahmen und Beschränkungen sofort entfallen würden. Auch dann würde sich ein Teil der Menschen weiter vorsichtiger verhalten als vor der Pandemie (durch die WHO wurde der Pandemiezustand erst am 12.3.2020 erklärt!) und Risikogruppen würden sich wohl vollständig aus der Öffentlichkeit zurückziehen (müssen).

Wir befinden uns aktuell in Deutschland in einer besonders kritischen (aber wissenschaftlich interessanten) Phase, in der von den Bundesländern bestimmte Lockerungen ausprobiert werden, in der Hoffnung, dass die Auswirkungen begrenzt bleiben werden, d.h. insbesondere, dass R kleiner 1 bleibt. Solange Ausbrüche lokal bleiben und Kontakte nachverfolgt werden können (aktuell durch die Gesundheitsämter immer noch „händisch“, also mit Telefon in der einen und Telefonliste in der anderen Hand), so die Hoffnung, kann eine zweite Phase exponentiellen Wachstums verhindert werden.

Die Politik wählt die Lockerungen dabei eher nicht auf fundierter wissenschaftlicher Basis aus, sondern eher „experimentell“, als Reaktion auf die Öffentlichkeitsarbeit von Interessengruppen: Vertreter des Handels wollen die Maskenpflicht in Geschäften loswerden, Arbeitgeber treten für die Kindergarten- und Schulöffnung ein, damit Ihre Angestellten in Ruhe arbeiten können.

Nun wäre es schön, wenn wir in unserem SIR oder SEIR-Modell das R der jeweils aktuellen Lage anpassen könnten. Dazu gab es bisher viele Vorschläge und Meinungen, aber wenig Fundiertes. Nun hat eine Gruppe von Wissenschaftlern versucht, auf Basis der Daten vieler Länder die Wirksamkeit von Corona-Eindämmungsmaßnahmen in der Retrospektive zu bestimmen.

Es handelt sich dabei um einen Preprint (s.u.), d.h. der Artikel ist noch nicht in einer Fachzeitschrift erschienen.

Sofern die Ergebnisse sich als valide erweisen, gilt (verkürzt dargestellt):

  • Schulschließungen halbieren R
  • Schließungen von Geschäften reduzieren R um ein Drittel
  • Schließungen von Bars und Restaurants reduzieren R um ein Viertel
  • Verbot von Gruppen >10 Personen: 30 % Reduktion von R
  • Verbot von Gruppen >100 Personen: 17 % Reduktion von R
  • Verbot von Gruppen >1000 Personen: 16% Reduktion von R
  • Ausgangssperre (die wir in Deutschland nicht hatten): 14% Reduktion von R

Die Studie hat gewissen Einschränkungen, die aus den Daten her rühren. So wurde das Maskentragen in europäischen Ländern erst sehr spät eingeführt und hatte damit einen geringen zusätzlichen Effekt. Daten aus Asien scheinen dagegen den positiven Effekt der Masken zu bestätigen.

Bemerkung zum „Preprint“-Begriff: Es ist heute in vielen Wissenschaftsdisziplinen völlig normal geworden, früh eine Version einer wissenschaftlichen Arbeit online zu stellen. Gibt es bei Vorträgen auf Konferenzen Nachfragen zu Details, kann man auf den Preprint verweisen. Außerdem helfen Preprints bei Prioritätenstreitigkeiten. Von der Einreichung eines Artikels bei einer Fachzeitschrift bis zum Erscheinen vergeht in der Numerik meist ungefähr ein Jahr, machmal zwei Jahre. Wenn ein Artikel erst offiziell erschienen ist, erzähle ich auf Vorträgen längst neuere Dinge. Man kann Preprints auch als Diskussionsgrundlage unter Wissenschaftlern sehen: Oft ist der finale Zeitschriftenartikel an einigen Stellen verbessert.

Bemerkung: Bereits in Science erschienen ist eine auf Deutschland bezogene Studie, die ebenfalls in der Retrospektive versucht, die Wirksamkeit von politischen Anti-Corona-Maßnahmen in Deutschland zu bestimmen. Die Arbeit basiert auf der Anpassung eines SIR- und eines SEIR-Modells an die Daten aus Deutschland. Gefunden wurde unter Anderem, dass möglicherweise erst die Kombination der nacheinander erfolgten staatlichen Maßnahmen

  • (i) Absage von Großveranstaltungen
  • (ii) Schließung von Schulen, Kindergärten und einem Teil der Geschäfte und
  • (iii) Kontaktbeschränkungen

das exponentielle Wachstum in Deutschland gestoppt hat (Seite 4 unten). Naturgemäß muss unklar bleiben, ob andere Maßnahmen (oder auch nur eine andere Reihenfolge) ebenso gewirkt hätten.

In der Tat befinden wir uns aktuell immer noch in einer instabilen Lage mit R nahe 1, obwohl ein Großteil der Maßnahmen (noch) gilt: (i) Großveranstaltungen sind weiterhin verboten; (ii) Schulen und Kindergärten sind nur im Notbetrieb; Geschäfte sind offen aber mit Maskenpflicht; (iii) Kontaktbeschränkungen gelten weiterhin, allerdings in verschiedenen Versionen, je nach Bundesland.

Das spricht dafür, dass man sich bei jeder weiteren Lockerung vorher überlegen sollte, wie man mögliche negative Effekte kompensieren kann. Ein gutes Beispiel ist: Die Geschäfte wurden geöffnet, aber eine Maskenpflicht eingeführt. Als nächstes könnte man (=wird man) die Schulen vollständig öffnen. Gleichzeitig könnte man (=wird man leider nicht) eine Test- und Eindämmungsstrategie für Lehrer/innen und Schüler/innen einführen.