Die Immunflucht gegen die Omikron-Coronavariante wurde nun erstmals öffentlich quantifiziert: Die neutralisierenden Antikörpertiter gegen Omikron sind (in einer groben ersten Abschätzung von Alex Sigal am Africa Health Research Institute anhand von 12 Personen mit Biontech-Impfung) um den Faktor 41 erniedrigt. Siehe etwa die aktuelle Meldung von NTV.
Gegen Delta waren die neutralisierenden Titer (nur) um etwa den Faktor 6 im Vergleich zum Wildtyp erniedrigt (in Wall et al. in Lancet wurde z.B. der Wert 5,8 für Biontech gefunden).
Was bedeutet das?
Der Zusammenhang zwischen den neutralisierenden Antikörpertitern und der Wirksamkeit ist (zumindest zwischen 30 und 90 Prozent Wirksamkeit) grob logarithmisch (Khoury et al.: Fig. 1). Darüber nimmt der Nutzen von mehr Antikörpern ab.
Ein Faktor 10 in den Titern macht dabei den Unterschied zwischen etwa 60% Wirksamkeit und 95% Wirksamkeit (Khoury et al.: Fig. 2).
Etwas mehr als ein Faktor 10 in den Titern liegt zum Beispiel zwischen den chinesischen CoronaVac-Impfstoff (Wirksamkeit etwa 50 Prozent) und Biontech (Wirksamkeit 95% gegen symptomatischen Infektion – gilt gegen den Wildtyp, für einen frisch geimpften „jungen“ Menschen), siehe Fig. 1 in Khoury et al.
Man könnte also verkürzt sagen: Faktor 10 Reduktion (etwa 2 hoch 3,3) macht aus einer Biontech-Impfung eine CoronaVac-Impfung.
Man kann versuchen aus den Abbildungen Fig. 1 und Fig. 2 aus Khoury et al. grob abzuschätzen, bei welcher Wirksamkeit man für Biontech gegen Omikron (Faktor 41 ist ungefähr 2 hoch 5,4) landen wird: Aus einer frischen Biontech-Impfung mit 95 Prozent Wirksamkeit wird Omikron demnach weniger als 30% Wirksamkeit machen. Ist die Wirksamkeit der Biontech-Impfung nach wenigen Monaten auf 80% abgesunken (was etwa den Schutz von Genesenen entspricht), kommt man bei einen Schutz gegen Omikron von deutlich unterhalb von 30% aus (unterhalb von 30% beanspruchen die Autoren keine Gültigkeit des Modells mehr). Auch für Moderna sieht die Sache nicht viel besser als. Für andere Impfstoffe sieht die Sache noch schlechter aus.
Das heißt vorsichtig formuliert: Für Genesene und (nicht ganz frisch) Zweifach-Geimpfte kann man mit dem Model aus Khoury et al. grob abschätzen, dass gegen Omikron nur ein Schutzlevel (gegen symptomatische Infektion) von weniger als 30% erreicht werden könnte.
Die Daten aus dem Artikel sind nur auf Anfrage erhältlich, daher kann man die Abschätzung nur grob machen, aber vielleicht frage ich die Daten mal an.
Das bedeutet, dass ein Schutz vor Infektion wohl nur durch die dritte Dosis (=die Booster-Impfung) erreicht werden kann. Sie erhöht die Antikörperlevel erheblich und (zumindest für den Biontech-Booster und den Moderna-Booster) deutlich über die Level nach der zweiten Dosis hinaus.
Wir sind wohl in einer ähnlichen Lage wie Großbritannien zu Beginn seiner Impfkampagne. Es hatte zu Beginn die Erstimpfungen priorisiert und die Zweitimpfungen aufgeschoben, weil eine Dosis schon eine gute Wirksamkeit zeigte. Wegen Delta musste diese Strategie dann schnell geändert werden und die zweiten Impfdosen wurden vorgezogen.
Jetzt sieht es so aus, dass erst eine dritte Dosis (mit noch höheren Antikörpertitern) akzeptablen Schutz vor der Omikron-Variante geben wird. Da man das Spiel nicht ewig so weiter machen kann, wird man ab Sommer 2022 wohl im großen Stil Variantenimpfstoffe verimpfen (müssen).
Quellen:
Hier die Quelle zum Modell, das den Zusammenhang von neutralisierenden Antikörpertitern gegen SARS-Cov-2 und der Wirksamkeit herstellt:
Khoury, D.S., Cromer, D., Reynaldi, A. et al. Neutralizing antibody levels are highly predictive of immune protection from symptomatic SARS-CoV-2 infection. Nat Med 27, 1205–1211 (2021). https://doi.org/10.1038/s41591-021-01377-8
Das Modell im Artikel hat auch einigermaßen akkurat den Wirksamkeitsrückgang der Impfstoffe über die Zeit vorhergesagt.
Der Cohn et al. in Science zeigt deutlich die Abnahme der Wirksamkeit von Janssen, Biontech und Moderna über die Zeit. Die Abnahme ist allerdings auch durch das Aufkommen von Delta mitverursacht.
Barbara A. Cohn, Piera M. Cirillo, Caitlin C. Murphy, Nickilou Y. Krigbaum, and Arthur W. Wallace, Science • 4 Nov 2021 •DOI: https://dx.doi.org/10.1126/science.abm0620
Nachtrag (11.12.2021): Auch Biontech geht inzwischen (nach eigenen Laborversuchen) davon aus, dass durch zwei Impfdosen kein Schutz vor Omikron besteht. Die dritte Biontech-Dosis soll nun die Antikörperkonzentration (zumindest kurz nach der dritten Impfung) so hoch anheben, dass ein gewisser Schutz vor Omikron gegeben sein kann. Allerdings sind Omikron-Impfdurchbrüche auch nach Boostern bereits bekannt (und das passt ins Bild).
Letztlich bleibt aber zu hoffen, dass die Impfung dennoch einen Schutz vor schweren Verläufen bietet (könnte sein) und auch vor Long Covid. Allerdings gibt es Studien, die Long Covid bei Impfdurchbrüchen ähnlich häufig beobachten, wie bei Infektionen ohne Impfung. Ohne Omikron wären die Impfdurchbrüche (zumindest nach frischer Impfung) selten geblieben, das könnte sich mit Omikron ändern.
Nachtrag (11.12.2021): Die Ausbreitung von Omikron in Großbritannien und Dänemark sind besorgniserregend, die Verdopplungszeiten sind mit 2 bis 3 Tagen extrem kurz. Auch in Südafrika breitet sich Omikron schneller aus als alle anderen Varianten zuvor.
Nachtrag (12.12.2021): Bei einer bundesweiten 7-Tage-Inzidenz von 429 (wieder sinkend), nicht wenigen Hotspots in Sachsen und Thüringen zwischen 1000 und 2000 lohnt ein erster kurzer Rückblick auf die aktuelle Delta-Welle (die aber auch wieder ansteigen kann). Von vielen Politikern hieß es in den letzten Wochen, die Delta-Welle sei eine große Überraschung.
Dazu ein Zitat auf diesem Blog vom 27.7.2021 als Antwort auf einen Kommentar u.a. zu Infektionen in Schulklassen:
Ein R-Wert von 25 kommt mir etwas hoch vor (das waere die gesamte Klasse), aber inzwischen herrscht ja Konsens, dass Inzidenzen von 400 oder 800 im Herbst realistisch sind, aufgrund der hohen Infektiösität der Deltavariante – und weil auch Geimpfte Deltainfektionen weitergeben können.
Aktuell (im Sommer), könnte man die Infektionszahlen stabil niedrig halten, wenn alle Menschen etwas vorsichtiger bleiben würden, das würde die Lage im Herbst verbessern. Dazu wäre kein Lockdown nötig. Stattdessen sehe ich nur Menschen (gut, die Vorsichtigen sind weniger sichtbar), die sich verhalten, als gäbe es die Deltavariante nicht.
Mit dem klaren Szenario einer Delta-Welle im Herbst ist z.B. irritierend:
a) Die Abschaffung der Maskenpflicht in Geschäften in einige Bundesländern – mir ist die Maske lieber als alles andere (Ausgangssperre, Kontaktsperre, …)
b) Dass tatsächlich keine Maske mehr getragen wird.
Nachtrag (2.1.2022): Inzwischen berichtet die UK Health Security Agency von Ihren Daten zur Omikron-Welle in Großbritannien. Es zeigt sich, dass die Vermutungen aus dem oben diskutierten Modell sich bestätigen. Zwei Dosen der aktuellen Impfstoffe (AstraZeneca, Biontech/Pfizer und auch Moderna) sind gegen eine symptomatische Infektion durch Omikron 20 Wochen nach der Impfung praktisch wirkunglos geworden, genauer gesagt sieht man in GB eine Impfstoffwirksamkeit von nur noch etwa 10%. („down to around 10% by 20 weeks after the second dose.„. Diese Aussagen sind ziemlich belastbar, da GB in der Omikron-Welle inzwischen auf mehr als eine halbe Million Omikron-Infektionen hatte.
Hier das vollständige Zitat aus dem Abschnitt „Vaccine effectiveness“ aus Seite 10:
„Among those who had received 2 doses of AstraZeneca, there was no effect against Omicron from 20 weeks after the second dose. Among those who had received 2 doses of Pfizer or Moderna effectiveness dropped from around 65 to 70% down to around 10% by 20 weeks after the second dose.“
Quelle: UK Health Security Agency: „SARS-CoV-2 variants of concern and variants under investigation in England – Technical briefing: Update on hospitalisation and vaccine effectiveness for Omicron VOC-21NOV-01 (B.1.1.529)„
https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/1044481/Technical-Briefing-31-Dec-2021-Omicron_severity_update.pdf
Die dritte Dosis (Booster-Dosis) erhöht die Wirksamkeit gegen symptomatische Infektion wueder auf 65% bis 75%, aber die Wirksamkeit geht schnell zurück. Sie fällt schon nach 10 Wochen auf 40% bis 50%:
„2 to 4 weeks after a booster dose vaccine effectiveness ranged from around 65 to 75%, dropping to 55 to 70% at 5 to 9 weeks and 40 to 50% from 10+ weeks after the booster.“
Quelle: UK Health Security Agency: „SARS-CoV-2 variants of concern and variants under investigation in England – Technical briefing: Update on hospitalisation and vaccine effectiveness for Omicron VOC-21NOV-01 (B.1.1.529)“
https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/1044481/Technical-Briefing-31-Dec-2021-Omicron_severity_update.pdf
Das bedeutet, dass man die Omikron-Welle durch Booster-Impfungen alleine (selbst, wenn sie schnell genug wären) nicht gut in den Griff bekommen kann. Es gibt aber auch gute Nachrichten zu Omikron. So sind die Verläufe, die ins Krankenhaus führen, in GB offenbar deutlich seltener als noch zuvor bei Delta.
Nachtrag (2.1.2022): Die guten Nachrichten zu Omikron aus GB sind
„Protection against hospitalisation from vaccines is good against the Omicron variant. One dose of any vaccine was associated with a 35% reduced risk of hospitalisation among symptomatic cases with the Omicron variant, 2 doses with a 67% reduction up to 24 weeks after the second dose and a 51% reduced risk 25 or more weeks after the second dose. A third dose was associated with a 68% (95% confidence interval 52 to 82%) reduced risk of hospitalisation when compared to similar unvaccinated individuals. When the reduced risk of hospitalisation was combined with vaccine effectiveness against symptomatic disease, the vaccine effectiveness against hospitalisation was estimated as 52% after one dose, 72% 2 to 24 weeks after dose 2, 52% 25+ weeks after dose 2 and 88% 2 weeks after a booster dose.“
https://www.gov.uk/government/news/covid-19-variants-identified-in-the-uk
und
„An update on the analysis published last week finds the risk of presentation to emergency care or hospital admission with Omicron was approximately half of that for Delta (Hazard Ratio 0.53, 95% CI: 0.50 to 0.57). The risk of hospital admission from emergency departments with Omicron was approximately one–third of that for Delta (Hazard Ratio 0.33, 95% CI: 0.30 to 0.37). These analyses were stratified on date of specimen and area of residence and further adjusted for age, sex, ethnicity, local area deprivation, international travel, vaccination status.“
https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/1044481/Technical-Briefing-31-Dec-2021-Omicron_severity_update.pdf
(Seite 4, Study 1:Risk of hospitalisation)
Bei den Hospitalisierungen zeigt sich, dass auch 2 Impfdosen noch einen Schutz bieten (Table 4 auf Seite 9; hier ohne die Konfidenzintervalle)
Impfstatus | Omicron | Delta |
Ungeimpft oder weniger als 28 Tage seit Impfung | 100% (Referenz) | 100% (Referenz) |
Eine Impfdosis (mehr als 28 Tage her) | 102% | 42% |
Zwei Impfdosen (mehr als 14 Tage her) | 35% | 18% |
Drei Impfdosen (mehr als 14 Tage her) | 19% | 15% |
https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/1044481/Technical-Briefing-31-Dec-2021-Omicron_severity_update.pdf
(Seite 9, Table 4)
Nachtrag (nur für die Akten): Die oben gemachten Vorhersagen basierend auf dem Model aus Khoury et al. und der Quantifizierung der Immunflucht von Alex Sigal haben sich inzwischen ziemlich genau in der wahren Welt bestätigt, siehe die Zahlen des UKHSA (press release 27. Jan. 2022):
„An initial analysis of vaccine effectiveness against the Omicron variant sub-lineage known as BA.2 (designated VUI-22JAN-01 on 19 January), reveals a similar level of protection for symptomatic infection compared to Omicron (BA.1). After 2 doses, effectiveness was 9% and 13% respectively for BA.1 and BA.2, after 25+ weeks. This increased to 63% for BA.1 and 70% for BA.2 from 2 weeks following a booster vaccine.“ UKHSA (press release 27. Jan. 2022)
D.h. Schutz gegen symptomatische Infektion liegt bei zwei Impfdosen bei 9% für Omikron BA.1 und 13% für Omikron BA.2 (nach 25 und mehr Wochen). Schutz gegen Infektion ist also praktisch nicht vorhanden. Unmittelbar nach der dritten Dosis (Booster) steigt der Schutz auf 63% (BA.1) bzw. 70% (BA.2). Der Schutz erreicht also nicht mehr die Höhe, wie gegen den Wildtyp, gegen den die Impfstoffe entwickelt wurden.
Die gute Nachricht ist, dass der Schutz gegen Krankenhauseinweisung auch 9 Wochen nach dem Booster gut bleibt:
„After a Moderna booster (mRNA-1273) (after either primary vaccination course), vaccine effectiveness against hospitalisation was 90% to 95% up to 9 weeks after vaccination. Longer follow-up data is not yet available and these figures may change with time.“ UKHSA (press release 27. Jan. 2022)