SARS-CoV-2-Eindämmung
Generell kommen in deutschen Medien, in der deutschen Politik und selbst in der Geschichtsschreibung zu wenig Zahlen vor. Aktuell werden jedoch im Kontext der SARS-CoV-2-Epidemie durchaus Zahlen diskutiert – Infiziertenzahlen, Dunkelziffern, Sterberaten, Verdopplungszeiten, Reproduktionszahlen, Generationszeiten sorgen aber auch für Verwirrung. Dies wird ein Versuch werden, die Verwirrung zu reduzieren und dabei Mathematik zu diskutieren.
Zunächst ein Appell: Nehmen sie die durch SARS-CoV-2 hervorgerufene Krankheit Covid-19 ernst. Aktuell sterben in Deutschland fast 3 Prozent der Erkrankten; in Italien, Frankreich, und Schweden sind es 10 Prozent und mehr (auch wenn dort eine höhere Infizierten-Dunkelziffer vermutet wird). Auch die Überlebenden können bleibende Schäden (etwa durch die Beatmung) behalten.
Warum die „Lockerungen“ keine Lockerung der Anstrengungen sein dürfen (17.04.2020).
Die großen, teuren und schmerzhaften Eindämmungsanstrengungen seit dem 13.03.2020 (Kindergartenschließungen, Schulschließungen, Schließung der Universitäten, Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote) haben nach Daten des Robert-Koch-Instituts (gerade so) genügt, das exponentielle Wachstum der Infektionen zu stoppen: Die Reproduktionszahl R ist von ca. R=3 auf knapp unter R=1 gesunken; (allerdings handelt sich dabei immer um geschätzte Werte). Dabei bedeutet R>1 exponentielles Wachstum und R<1 exponentielle Reduktion der Neuinfektionen. Die Reproduktionszahl wird gerne so interpretiert, dass ein Infizierter durchschnittlich R gesunde Menschen ansteckt. Zu einer Reproduktionszahl gehört immer auch eine Generationenzeit (siehe auch serial interval, Serien-Intervall). Mehr dazu später. Das Robert-Koch-Institut nimmt für seine Rechnungen aktuell 4 Tage als Generationenzeit an. Auf den genauen Wert (der unsicher ist und sich zeitlich verändern kann) kommt es nicht unbedingt an (in einige Publikationen wird ein Wert um die 5 Tage angenommen, andere Artikel übernehmen den Wert von ca. 8 Tagen von SARS-1); wird eine andere Generationenzeit angenommen, kommt man zu einem anderen R. Mehr dazu irgendwann später. Wichtig ist eigentlich nur das Wachstumsverhalten: Haben wir exponentielles Wachstum, lineares Wachstum oder ein Abklingen? (Natürlich ist in der Realität auch die Geschwindigkeit des Wachstums wichtig, aber dazu später mehr beim Thema Verdopplungszeiten.)
Die nun aktuell am 15.04.2020 beschlossenen Corona-Regel-Lockerungen kommen zu einem frühen Zeitpunkt, d.h. bei R ungefähr 1 und aktuell mehr als 50000 aktiven Infektionen. Nach Einschätzung von Helmholtz-Wissenschaftlern kommen die Lockerungen zu früh. Auch das versuchen wir hier zu (er)klären.
Dabei ist wesentlich, dass bei SARS-CoV-2 die Hälfte der Ansteckungen passiert (der genaue dort genannte Wert ist 46 Prozent; hier die Originalarbeit, auf die Bezug genommen wird), wenn keine oder noch keine Symptome vorliegen, der Ansteckende also gar nicht ahnt, dass er andere gefährdet. Dies ist der wesentliche Unterschied zu früheren Epidemien, wie SARS-1 oder MERS. Und genau deswegen haben die herkömmliche Strategien der Gesundheitsämter, Fallverfolgung+Quarantäne, weder in China (im Dezember 2019) noch in Deutschland (im Februar und März 2020) SARS-CoV-2 eindämmen können.
Es ist zum Glück nicht zu erwarten, dass wir durch die Lockerungen zu einem R in der Nähe von 3 zurückkehren, d.h. zu exponentiellem Wachstum in der Geschwindigkeit wie am Anfang der Epidemie in Deutschland – die Abbildung unten visualisiert die Infektionszahlen vom 01.03.2020 (Tag 0) bis zum 21.03.2020 (Tag 20) in Deutschland. Denn es ist zu hoffen, dass die Menschen inzwischen vorsichtiger und geübter geworden sind.
Es ist an dieser Stelle vielleicht wichtig, sich klar zu machen, was ohne die Eindämmungsmaßnahmen geschehen wäre: Schon am Tag 40 (d.h. am 10.04.2020) wären über 4 Millionen Menschen in Deutschland infiziert gewesen (siehe Abbildung unten). Bei einer aktuellen Sterblichkeit in Deutschland von 2,7 Prozent hätte das über 100000 Tote bedeutet. Auch falls die Sterblichkeit näher bei 1 Prozent liegen würde (was vorläufige Ergebnisse der Heinsberg-Studie suggerieren könnten), wären das etwa 40000 Tote (statt aktuell unter 4000). Auch hätten wir bereits im April 2020 apokalyptische Bilder in den Krankenhäusern gehabt – und wir wissen (aus China und Italien), dass bei einer „Überlastung des Gesundheitssystems“ die Sterblichkeit auf 10 Prozent und mehr steigt. Mit „Überlastung des Gesundheitssystems“ werden dabei gerne Zustände umschrieben, die die Abweisung von Patienten am Krankenhauseingang, die Selektion von Kranken nach Überlebenschancen und hohe Ansteckungsgefahr für das Krankenhauspersonal selbst bedeuten. Letzeres wiederum kann zum kompletten Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen, mit ernsten Folgen auch für die Kranken, die nicht Covid-19 haben.
In die folgende Abbildung ist eine Ausgleichsgerade (durch die Infektionsdaten vom 01.03.2020 bis zum 21.03.2020) eingezeichnet, berechnet mit der Methode der Kleinsten-Quadrate. Die Skala auf der y-Achse ist logarithmisch, damit exponentielles Wachstum einer Geraden entspricht. Tag 0 wurde als der 01.03.2020 gewählt, weil da die Anzahl der Infizierten erstmals dreistellig wurden. Dies ist inspiriert von der Darstellung von NTV, woher auch die Daten kommen (nicht vom RKI). Hier entspricht die Steigung der rot gestrichelten Linie einer Verdopplungszeit von 3 Tagen und die Steigung der magentafarben gestrichelten Linie einer Verdopplungszeit von 2 Tagen. Die Steigung der Ausgleichsgeraden entsprechen einer Verdopplungszeit von etwa 2,6 Tagen. Gemäß der Geraden wurden für den Tag 40 (10.04.2020) mehr als 4,4 Millionen Infizierte prognostiziert.
Die eingezeichnete Gerade lässt sich natürlich nicht für alle Zeiten als Prognose verwenden, auch nicht bis 80 Millionen. Das implizierte exponentielle Modell verliert deutlich vor der kompletten Durchseuchung der 80 Millionen Menschen in Deutschland seine Gültigkeit (siehe die typischen Verläufe aus SIR-Modellen). Bei einer angenommenen Immunität nach Erkrankung wird sich (bei angenommenem R=3) letztlich mehr als 2/3 der Bevölkerung anstecken (die in den Medien oft erwähnten 70 Prozent). Die Überschlagsrechnung dazu geht so: Wenn (mehr als) 2 von den 3 Angesteckten immun sind, wird die Epidemie exponentiell abklingen. Auch während des Abklingens kommen natürlich noch ein paar Infizierte dazu.
Allerdings wären bei mehr als 4 Millionen Infizierten (bei einer angenommenen Sterblichkeit von nur einem Prozent) mehr als 40000 Menschen an Covid-19 gestorben. Immunität ließe sich natürlich auch durch eine Impfung erreichen. Allerdings ist unklar, wann (und ob) sie zur Verfügung stehen wird.
Mit einem niedrigerem 1<R<3 (SIR-Modelle, in Wahrheit muss R dazu deutlich kleiner als 3 sein), wird am Ende der Epidemie weniger als 2/3 der Bevölkerung infiziert worden sein, mehr dazu später, aber es bleibt bei R>=1 nur die Wahl zwischen einer sehr langen „Koexistenz von Mensch und Virus“ (Meyer-Hermann) bei ungefähr R=1 oder einer signifikanten Menge von Toten (bei R>1).
Es ist aktuell unklar, welches Ziel die Bundesregierung verfolgt, d.h. ob R<1 angestrebt wird (Eindämmung), oder R nahe 1 (und gleichzeitig auf eine Impfung oder ein Medikament gehofft wird), oder doch Immunität durch Durchseuchung (unter Inkaufnahme der Opfer) das Ziel sein soll.
Wenn die Durchseuchung der Bevölkerung (inklusive der Opfer) vermieden werden soll, gibt im Wesentlichen aktuell nur zwei neue Maßnahmen, von denen wir dann hoffen müssen, dass sie die Lockerungen überkompensieren: 1) Tragen von Masken. 2) Die Corona-Verfolgungs-App.
(18.04.2020: Inzwischen hat ein Regierungssprecher ein Ziel für den Wert von R formuliert)
Bemerkung: Die App ist deswegen so wichtig, weil sie ermöglicht, die Ansteckung durch noch symptomlose Infizierte zu reduzieren: Wenn ein Mensch erkrankt (hat Symptome und begibt sich in Quarantäne), muss die App anonym seine Kontakte benachrichtigen. Diese müssen sich sofort ebenfalls in Quarantäne begeben, bevor sie selber Symptome entwickeln. Nur auf diese Weise kann die Ansteckung durch symptomlose Infizierte reduziert werden – was hoffentlich zu einem R<1 führt, wenn alles schnell genug geht. Hier eine viel erwähnte Arbeit zu diesem Thema.
Die Epidemie hat kein Gedächtnis
Die strengen Eindämmungsmaßnahmen begannen am 13.03.2020 mit den Schließungen der Kindergärten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Deutschland (nur!) etwa 3000 Infizierte und fast so viele aktive Infektionen (d.h. erst wenige Geheilte oder Verstorbene).
Ein Irrtum, dem aktuell viele Menschen erliegen ist, dass die erzielten „Erfolge“ (von der Bundeskanzlerin „zerbrechlich“ genannt) doch in dem Sinne gewürdigt werden müssten, dass eine Rückkehr ins „normale wirtschaftliche und öffentliche Leben“ nach so vielen Wochen der Anstrengung möglich sein müsse.
Die Wahrheit ist: Die Epidemie hat kein Gedächtnis, sie wird sich an die Anstrengungen nicht erinnern. Sie startet jeden Tag neu, von den aktuellen Zahlen, die höher sind (!) als vor den Maßnahmen: wir starten aktuell von 50000 aktiven Infektionen (statt 3000 am 13.03.2020). Das bedeutet, es wurde nichts gewonnen, nur Zeit – ohne die Maßnahmen wären die 50000 Infektionen etwa am Tag 24 (d.h. am 25.3.2020) überschritten worden (siehe Abbildung).
Gewonnen wurden also 3 Wochen; das war wichtige Zeit, um die Anzahl der Intensivbetten (ca. 30000 in ganz Deutschland) zu verdoppeln (auch wenn das nicht vollständig gelungen sein mag), Schutzmaterialien einzukaufen (auch wenn das Versorgungsproblem nicht dauerhaft gelöst ist), Operationen zu verschieben (auch wenn dadurch auch Krebspatienten auf ihre OP warten müssen).
Man kann es auch so sagen: Mit dem ereichten R<1 ist demonstriert worden, dass das Virus auch mit „europäischen Mitteln“ eindämmbar ist – sofern man die strengen Maßnahmen konsequent weiterführen würde. Durchaus eine wichtige Erkenntnis.
Kehren wir jetzt zurück zum Verhalten von vor dem 13.03.2020, so kehren wir zurück zu R nahe 3 und bekommen dann das gleiche exponentielle Wachstum wie Anfang März (siehe Abbildung). Nur mit 3 Wochen Verspätung und mit einem Startwert von 50000 Infizierten statt 3000. Wir steigen also direkt höher ein.
Das Gedächtnis haben allerdings wir, d.h. wir können uns besser an die (nun eingeübten) Empfehlungen und Regeln halten, die vor dem Kontaktverbot auf diesem Kontinent kaum jemand ernst genommen hat.
Wir müssen hoffen, dass das zusammen mit den (selbstgenähten) Masken und der (noch nicht entwickelten) App für R<1 reicht.
Interessant!