19. April 2020 – Oliver Rheinbach Allgemein

Regierungssprecher formuliert das Ziel „R von 1,0“

Nach Medienberichten hat der Regierungssprecher Helge Braun die Strategie der Bundesregierung mit den Worten beschrieben: „Die Zahl der täglichen Neuinfektionen sollte auf einem gleichbleibenden Niveau sein. Das entspricht einer Basisreproduktionszahl R von 1,0 und bedeutet, dass ein Infizierter nur einen weiteren Menschen ansteckt.“ (Zitiert nach T-online).

Eine Herdenimmunität durch Durchseuchung wird demnach nicht angestrebt (wegen sicherer Überlastung des Gesundheitssystems): „Um nur die Hälfte der deutschen Bevölkerung in 18 Monaten zu immunisieren, müssten sich jeden Tag 73.000 Menschen mit Corona infizieren. […] So hohe Zahlen würde unser Gesundheitssystem nicht verkraften und könnten auch von den Gesundheitsämtern nicht nachverfolgt werden.“ (Zitiert nach T-online).

Und „Daher lautet die Strategie, Ansteckungen zu vermeiden und bezüglich der Immunität auf die Einsatzfähigkeit eines Impfstoffs zu warten.“ (Zitiert nach T-online).

Damit ist klar auch, dass eine (kurzfristig teure) Eindämmung (mit R deutlich kleiner als 1, etwa nach dem Vorbild asiatischer Länder) von der Bundesregierung nicht angestrebt wird. Als Grund wird angegeben: „Politisch müssen wir bedenken, dass Deutschland sich mitten in Europa aufgrund der Pendlerströme und Wirtschaftsverkehre nicht so gut abschotten kann und will. […] Selbst wenn wir das Virus stark zurückdrängen, kommt es dann aus dem Ausland immer wieder zurück.“ (Zitiert nach T-online).

Dazu ist zu bemerken, dass die bislang geltenden Maßnahmen einschneidend und (kurzfristig) sehr teuer sind. Allerdings bedeutet ein R nahe 1 eine instabile Lage, die jederzeit außer Kontrolle geraten kann – und selbst im besten Fall ein langes Andauern der Epidemie-Lage bedeutet, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht (Simulationen dazu folgen).

Es ist auch festzustellen, dass die Strategie „R nahe 1“ (+Spekulieren auf einen Impfstoff) als auch die Umsetzung der Stategie den wissenschaftlichen Empfehlungen widerspricht:

  • Diese Strategie widerspricht der Empfehlung der Helmholtz-Iniative.
  • Die Bedingungen, die die Leopoldina für eine Lockerung der Maßnahmen (Maskenpflicht, Verfolgungsapp) sind nicht erfüllt worden.

Bemerkung (20.4.2020): Inzwischen hat nach Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern auch Bayern eine Maskenpflicht angekündigt. Jena hat schon länger eine Maskenpflicht und ist damit erfolgreich.

Bemerkung (22.4.2020): Weiter Bundesländer haben inzwischen nachgezogen und werden eine (teilweise) Maskenplicht einführen. Bislang galt nur eine dringende Aufforderung zum Maskentragen.

Bemerkung zur App (22.4.2020): Die Daten einer Infektionsverfolgungsapp lassen sich am besten schützen, wenn sie gar nicht erst zentral gespeichert werden.

Schlussbemerkung: Eine Optimierung von R mit der Anzahl der Intensivbetten (30000, davon aktuell 13000 frei) oder der Anzahl der Beatmungsgeräte als obere Schranke (Optimierung unter Nebenbedingungen) vernachlässigt, dass auch unter diesen Bedingungen viele Patienten sterben oder bleibende Schäden behalten. So sterben offenbar aktuell in New York über 80 Prozent der Covid-19-Patienten, die beatmet werden, in Großbritannien zwei Drittel.

Bemerkung (zu R): Heute wird in den Medien die Schätzung von R durch das RKI viel diskutiert. Gemeint ist dabei Abbildung 5 im schon oben verlinkten Bulletin des RKI von 15.4.2020 (hier der direkte Link zum PDF, Abb. 5 ist auf S. 14). Wichtig dabei ist, dass die Daten bearbeitet wurden (Nowcasting, eine Form der Extrapolation), d.h. sie wurden rechnerisch „um Diagnose-, Melde-, und Übermittlungsverzug“ korrigiert. Das heißt, die Korrektur soll etwa kompensieren, dass Gesundheitsämter Fälle noch nicht in das Meldesystem des RKI eingetragen haben. Außerdem dauert es einige Zeit, bis nach einer Erkrankung eine sichere Diagnose gestellt wird.
Wichtig in unserem Zusammenhang ist, wie das RKI begründet, dass R nach Mitte März nicht weiter gesunken ist (S. 17): 1. Die Testkapazitäten wurden erweitert, so dass mehr Fälle sichtbar wurden. 2. Mehr ältere Menschen haben sich angesteckt, auch durch Ausbrüche in Heimen und Krankenhäusern.
Während der erste Effekt rechnerisch ist, ist der zweite Effekt real: Auf dem Weg durch die Bevölkerungsgruppen trifft das Virus auch auf neue, schnellere Verbreitungsmöglichkeiten, wie etwa Pflegeheime. Es ist zu erwarten, dass dieser Effekt andauert.

Bemerkung (25.4.2020): Inzwischen hat die Bundeskanzlerin in einer Rede im Bundestag die Lockerungen als „zu forsch“ bezeichnet und auch das Robert-Koch-Institut warnt nun offiziell in einer Pressekonferenz vor weiteren Lockerungen. Weitere Lockerungen seien erst bei „wenigen Hundert“ Infektionsfällen pro Tag möglich, weil erst dann die Gesundheitsämter wieder zur Kontaktverfolgung (+Quarantäne) fähig sind. Aber: „Derzeit melden die Ämter im Durchschnitt täglich noch rund 2.000 Neuinfektionen in Deutschland.“. – Allerdings scheint es, als ob ein großer Teil der Medien, Wirtschaft und ein großer Teil der Bundesländer nun andere Prioritäten im Vordergrund sehen wollen.

Bemerkung (26.4.2020): Schon am 22.4. hat sich das RKI vorsichtig kritisch zu Lockerungen geäußert: „Eine unkontrollierte Lockerung der Maßnahmen und eine Rückkehr zu „prä-Pandemie-Verhalten“ würde somit zu einem erneuten Anstieg der täglichen Fallzahlen und einer Annäherung der effektiven Reproduktionszahl an die Basisreproduktionszahl führen.

Bemerkung (26.4.2020): Christian Drosten äußert sich in der SZ zu R und äußert sich kritisch über die Lockerungen.

 

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