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27. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Wann werden die Intensivbetten in Deutschland wegen Covid-19 knapp werden?

Die Sueddeutsche Zeitung liefert auf Sueddeutsche.de nicht nur aktuelle Graphiken zur Corona in Deutschland, sondern auch die Rohdaten.

Wir werfen heute (ohne jegliche Simulation) einen Blick auf Zahl der Covid-19-Kranken auf Intensivstationen. Diese Daten sind (anders als die Zahl der Neuinfektionen, wo es eine hohe Dunkelziffer geben könnte) ziemlich sicher.

Tag 1 ist der 26.4.2020, ab da gibt es erst Daten im DIVI-Register. Hier sind die Daten von Sueddeutsche.de allerdings mit einer logarithmisch skalierten y-Achse.

Man sieht, dass die Daten zwischen Tag 150 und Tag 170 ziemlich gut auf einer Geraden liegen, was auf exponentielles Wachstum hinweist. Die letzten 6 Tage liegen scheinen auf einer noch etwas steileren Gerade zu liegen.

Passen wir also testweise (mit der Methode der kleinsten Quadrate) eine Gerade an die Tage 150 bis 170 an und eine weitere an die Tage 171 bis 176.

Wir können die angepassten Geraden in die Zukunft fortführen, was die magentafarbene gestrichelte Linie und rote gestrichelte Linie ergibt.

Die horizontale, grüne, gepunktete Linie liegt bei 10000 Betten, was in etwa den aktuell freien Intensivbetten in ganz Deutschland entspricht. Die rote gepunktete Linie darüber liegt bei 30000 Betten, was in etwa die Gesamtzahl der Intensivbetten in Deutschland ist.

Man sieht, dass im schlimmeren Szenario (rote gestrichelte Linie) schon am Tag 188 die Grenze von 10000 Intensivbetten überschritten wird (das ist in 12 Tagen); setzt sich das Wachstum weiter genauso fort, wird am Tag 194, das heisst nur 6 Tage später, die Grenze von 30000 Intensivbetten überschritten. Dann wären alle Intensivbetten durch schwer an Covid-19 Erkrankte belegt.

Fällt das Wachstum langsamer aus (also in etwa so, wie es zwischen Tag 150 und Tag 170 war) so dauert es bis Tag 249, bis 10000 Intensivbetten erreicht sind. Das ist ungefähr zum Jahreswechsel 2020/2021.

Es dauert dann (nur) noch bis zum Tag 279, bis auch die restlichen Intensivbetten belegt sein werden, also 30000 Intensivbetten erreicht werden. Das ist nur 30 Tage später.

Bemerkung: Die rote gestrichelte Linie entspricht einer Verdopplungszeit von etwa 4 Tagen, die magentafarbene einer Verdopplungszeit von etwa 19 Tagen.

Zu bedenken ist auch, dass lokal schon viel früher Knappheit an Intensivkapazitäten auftreten kann. Zudem kann menschliches Leid bereits mit der vorausschauenden Freihaltung von Intensivbetten und der Verschiebung von anderen Behandlungen und Operationen beginnen.

Zu bedenken ist auch, dass etwa ein Viertel der Menschen versterben, die mit Covid-19 auf eine Intensivstation kommen.

Die aktuellen Zahlen laut Situationsreport des RKI vom 26.10.2020:
Aktuell werden 46 Prozent der Covid-19-Intensivpatienten invasiv beatmet.
Von den 19757 Menschen mit Covid-19, deren intensivmedizinischen Behandlung zum heutigen Zeitpunkt abgeschlossen ist, sind 23 Prozent verstorben (genauer gesagt 4529 Menschen). Wer invasiv beatmet wird hat laut Corona-Steckbrief des RKI in Deutschland eine etwa 50-prozentige Chance zu überleben.

Für alle staatlichen Maßnahmen ist zu bedenken, dass es von der Ansteckung bis zur Aufnahme auf eine Intensivstation einen erheblichen Zeitverzug gibt.

Das RKI rechnet aktuell mit (im Median) 10 Tagen von den ersten Symptomen bis zur Aufnahme auf eine Intensivstation. Es geht weiter von (im Median) 16 Tagen vom Symptombeginn bis zum Tod aus. Die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation bei invasiver Beatmung ist im Median 18 Tage! (Dabei werden für einen Intensivbehandlung mit Beatmung pro Fall etwa 40000 Euro an Kosten verursacht, schwerste Fälle verursachen Kosten bis zu 85000 Euro.)

Natürlich wird keines der Szenarien so eintreten, denn steigende Vorsicht, Maßnahmen der Landkreise etc. werden schon in wenigen Wochen dazu führen, dass sich die Wachstumsgeschwindigkeit verlangsamen wird (allerdings mit erheblichen Zeitverzug, s.o.; zumindest bleibt zu hoffen, dass weniger Menschen die Masken weiterhalb unterhalb der Nase tragen). Witterung und andere Faktoren arbeiten allerdings in die Gegenrichtung.

Wenn Personen mit erhöhtem Risiko auf FFP2-Masken (und äquivalente CPA-Masken) umsteigen würden, würde das die Anzahl der Intensivpatienten sicher ebenfalls noch einmal reduzieren. CPA-Masken gibt es inzwischen für 2,50 Euro das Stück; sogar inzwischen von einem sächsischen Hersteller, produziert in Sachsen mit Maschinen aus Sachsen.

Die Filterleistung von N95/FFP2/KN95/…-Masken bleibt ca. 8 bis 12 Stunden ausreichend sogar für den medizinischen Einsatz (siehe Empfehlungen der amerikanischen Seuchenbehörde CDC). Auch danach (die Masken bitte rotieren) werden sie sehr wahrscheinlich besser filtern als Alltagsmasken aus Baumwolle.

Stellungnahme aus der Wissenschaft zur Lage

Bemerkung: Zur sich verschärfenden Corona-Lage in Deutschland haben die vier großen nicht-universitären Wissenschaftsorganisationen (Fraunhofer, Helmholtz, Leibniz-, und Max-Planck-Gesellschaft) gemeinsam mit der Leopoldina eine Erklärung verfasst („Gemeinsame Erklärung der Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina„), die am 27.10.2020 veröffentlich wurde.

Der Titel ist „Coronavirus-Pandemie: Es ist ernst„.

Denn die Kontaktnachverfolgung trägt maßgeblich dazu bei, dass R klein bleibt, indem Ansteckungsketten unterbrochen werden (auch die Corona-Warn-App könnte dies leisten, aber sie wird immer noch zu wenig genutzt; wenn sie genutzt wurde, scheint ein fehlendes Häkchen auf dem Testformular (immernoch?) Probleme zu machen). Das bedeutet, dass R ab einem „Kipppunkt“ deutlich wachsen wird, was zu einem beschleunigten exponentiellen Wachstum führen würde. Das Dokument diskutiert neben den Neuinfektionen auch die erwarteten Sterbezahlen (Abbildung 3) und weist noch einmal auf den Zeitverzug nach Eindämmungsmaßnahmen hin.

  • Ein weiteres Argument ist, dass bei spätem Handeln die Eindämmungmaßnahmen lange aufrecht erhalten werden müssen, was zu sehr viel höheren Kosten führen würde

Was soll getan werden? Konkret wird vorgeschlagen, die

Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel„!

Es wird als Ziel formuliert: „Das Ziel muss es sein, die Fallzahlen so weit zu senken, dass die Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung wieder vollständig durchführen können. Sobald dies möglich ist, können die Beschränkungen vorsichtig gelockert werden, ohne dass unmittelbar eine erneute Pandemiewelle droht. Das muss aber bereits jetzt vorbereitet werden. Nach etwa 3 Wochen deutlicher Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen wird es entscheidend sein, die nachfolgenden Maßnahmen bundesweit einheitlich und konsequent durchzusetzen, um die dann erreichte niedrige Fallzahl zu halten. Hierfür ist eine breit angelegte Kommunikations-Anstrengung notwendig, die in ganz Deutschland an allen öffentlichen Orten die AHA+L+A (Abstands-, Hygiene-und Alltagsmasken, Lüften, Corona-Warn-App)-Regeln unzweideutig und bundesweit einheitlich kommuniziert. Die Einhaltung dieser fundamentalen Regeln sollte besser kontrolliert und bei Nichtbeachtung konsequent geahndet werden. Das beinhaltet die stringente Einhaltung der Maskenpflicht sowie eine Kontrolle der Hygiene-Konzepte z.B. in Hotels, Restaurants und auf Veranstaltungen.“ (Seite 6 der Erklärung)

Als weitere Maßnahmen wird empfohlen:

  1. Schutz von Risikogruppen,
  2. verbesserte Kommunikation mit Beispielen,
  3. Masken auch in Schulen,
  4. verstärkte Nutzung der Corona-Warn-App,
  5. freiwillige Einschränkung von privaten Kontakten,
  6. Schärfung und Kontrolle von Hygiene-Konzepten.

 

24. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Warum die Rückwärtsverfolgung von Corona-Infektionen so wichtig ist…

Der Virologe Christian Drosten weist seit Langem darauf hin, dass Kontakttagebücher und (neben der Vorwärtsverfolgung) die Rückwärtsverfolgung von Kontakten wichtig sind. Sehr interessant ist auch der Artikel auf theatlantic.com zum erfolgreichen Einsatz von Rückwärtsverfolgung in Asien.

Auch jetzt, wo erste Ballungszentren in Deutschland mit den Kontaktnachverfolgung nicht mehr nachkommen (hier Berlin), bleibt dies gültig.

Es geht darum, dass sich SARS-CoV-2 vor allem durch Superspreading-Events verbreitet. Grob gesprochen heisst dies, dass 10 Prozent der Infizierten 80 Prozent der Neuinfektionen verursachen. Im Umkehrschluss bedeutet das, das viele Infizierte niemanden infizieren (wer z.B. vom seinem bereits erkrankten Partner im Haushalt angesteckt wurde, wird wahrscheinlich niemand weiteren mehr anstecken, sondern von Anfang an mit dem Partner zuhause geblieben sein; sehr wahrscheinlich ist man sogar früh genug in angeordneter Quarantäne).

Dies ist die mathematische Arbeit zum Thema Rückwärtsverfolgung, die im Artikel in „The Atlantic“ erwähnt wird. Der Artikel ist unter eine Creative-Common-Lizenz (CC BY 4.0) publiziert, weshalb ich hier die wichtigste Abbildung darstellen kann.

Die Botschaft ist:

Wurde ein Corona-Infizierter gefunden, wird er über seine Kontakte befragt. Bekanntermaßen ist ein Infizierter bereits ca. 4 Tage vor den ersten Symptomen infektiös. Daher müssen alle Risikokontakte bis vor Tage vor Symptombeginn gesucht werden.

Da sich SARS-CoV-2 vor allem durch Superspreading-Events verbreitet, findet man bei der Vorwärtssuche einige wenige Risikokontakte. Schaut man aber rückwärts (stellt man also die Frage, wo die Person sich angesteckt hat), findet man mit großer Wahrscheinlichkeit ein Superspreading-Event (daher müssen Gesundheitsämter unbedingt nach Feiern, Gottesdiensten, etc. fragen). Die Teilnehmer an diesem Event müssen dann alle sofort (ohne Test) unter Quarantäne gestellt werden. Im nächsten Schritt müssen deren Kontakte ebenfalls gesucht werden (siehe Abbildung oben).

Hier noch ein Beispiel mit 5 Infizierten (oberste Reihe, genannt A1 bis A5). Es wird angenommen, dass jeder Infizierte durchschnittlich 2 weitere Personen mit Corona infiziert. Allerdings erfolgt die Übertragung hauptsächlich durch durch Superspreader. Hier steckt A1 insgesamt 8 weitere an (B1 bis B8), A2 und A3 stecken niemanden an und A4 und A5 jeweils eine Person (B9 und B10).

Dieses Verhalten setzt sich in der nächsten Generation fort: B1 steckt 8 Personen an, B8 ebenfalls 8 Personen; B3, B4, B9 und B10 stecken eine Person ab. Angenommen B4 und B8 werden durch Tests zufällig entdeckt, weil sie sich nach Symptomen in einem Testzentrum vorgestellt haben. Sie haben jedoch bereits andere angesteckt (Infektionsität beginnt ca. 4 Tage vor Symptomen).

Wird nun nur vorwärts verfolgt, werden nur die magentafarbenen Infizierten entdeckt (die dann sofort in Quarantäne müssen). Nur wenn man das Superspreading-Event identifiziert, kann man die gelb markierten Infizierten finden.

Eine Nebenbemerkung zum infektiösen Interval bei SARS-CoV-2: Ursprünglich ging man davon aus, dass Infizierte erst 2 Tage vor Beginn ihrer Symptome ansteckend sind. Das basierte auf einem Fehler in der Datenanalyse in einem einflussreichen frühen Nature-Artikel chinesischer Autoren. Die neue Analyse der Rohdaten durch die ETH Zürich zeigte, dass man 3 Tage vor Symptombeginn nach Kontakten schauen muss, um 80% der Infektionen zu finden, und sogar 4 Tage vor Symptombeginn, um 91% der Infektionen zu finden (siehe Tabelle 2 im Artikel). Dagegen war man vorher davon ausgegangen, dass man 98% der Infektionen findet, wenn man nur bis zu 2 Tage vor Symptombeginn danach sucht. Hier der entscheidende Satz der Schweizer Autoren:
Our reanalysis suggests that tracing contacts of infected index cases as far back as 2 or 3 days before symptom onset in the index case might not be sufficient to find all secondary cases.“ (Fettdruck nicht im Orginal).

Die Autoren des Orginalartikels in Nature-Medicine haben übrigens in der Folge eine Korrektur veröffentlicht. Die entscheidende Korrektur dabei ist: ‚The time frame in the first sentence of the tenth paragraph of the main body of the text (“2 to 3 days”) was incorrect. The correct time frame is “5 to 6 days.”

Allerdings: Offenbar hat das Robert-Koch-Institut seine Kontaktverfolgungsstrategie nicht angepasst, obwohl der Fehler im Nature-Artikel schon seit August bekannt ist (RKI: Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei Infektionen durch SARS-CoV-2, Stand: 19.10.2020):
„Unseren Empfehlungen liegen folgende Annahmen zugrunde:

  • Die Dauer der Inkubationszeit beträgt in den meisten Fällen maximal 14 Tage.
  • Der Mittelwert/Median für die Inkubationszeit liegt bei 5-6 Tagen.
  • Die Dauer der infektiösen Periode beträgt etwa 12 Tage. Sie beginnt bei
    • asymptomatischem Quellfall (Exposition bekannt): am Tag 3 nach Exposition;
    • bei asymptomatischem Quellfall (nur Probenahme-Termin bekannt): am Tag 2 vor der Probenahme;
    • bei symptomatischem Quellfall: 2 Tage vor Symptombeginn(Fettdruck nicht im Orginal)

und damit konsistent bemisst das RKI das infektiöse Zeitintervall für die Kontaktverfolgung wie folgt:

Das infektiöse Zeitintervall für symptomatische Fälle mit bekanntem Symptombeginn:
Ab dem 2. Tag vor Auftreten der ersten Symptome des Falles bis mindestens 10 Tage nach Symptombeginn, bei schwerer oder andauernder Symptomatik ggf. auch länger, siehe www.rki.de/covid-19-entlassungskriterien„.

Nach der Analyse der ETH kann man mit der immer noch aktuellen Strategie des RKI nur 61% (Konfidenzinterval 40–83%) finden, die restlichen 39% der Infektionen bleiben unauffindbar.

Noch eine Bemerkung: Aus den Medienberichten ist nicht klar, ob das RKI und die Gesundheitsämter eine Rückwärtsverfolgung wie oben beschrieben betreiben. Es ist aber klar, dass die Gesundheitsämter in Deutschland offenbar eine Form der Rückwärtsverfolgung praktizieren, denn das RKI präsentierte zuletzt die häufigsten SARS-CoV-2-Ansteckungsorte. Die Graphik findet sich auch im Situationsbericht vom 20.10.2020. Allerdings konnten die Gesundheitsämter nur bei 27 Prozent der Infektionen eine Zuordnung zu einem Ausbruchsgeschehen vornehmen: „Insgesamt wurden 55.141 (27 %) von 202.225 übermittelten Fällen mindestens einem Ausbruchsgeschehen zugeordnet. Der Anteil von Fällen, die einem Ausbruch zugeordnet wurden, liegt bei Kindern bei rund 40 %, nimmt dann bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ab und erst in der Altersgruppe der ab 80-Jährigen wieder deutlich zu.

Leider sind die Daten des RKI zu Ausbrüchen sehr start aggregiert. Der Allgemeinheit wäre durch anekdotische Fallbeispiele (case studies) für vergangene SARS-CoV-2-Übertragungen sicher besser gedient. Daraus könnte jeder Rezepte für sein eigenes Verhalten ableiten. Die Details im  Epidemiologisches Bulletin des RKI vom 17. September sind dennoch interessant. Es handelt sich im die Daten zu den Ansteckungsorten von 55151 Infizierten in Deutschland (allerdings konnte der Ansteckungsort von 147084 Infizierten nicht aufgeklärt werden):

Zu einigen dieser Details: Das RKI berichtet von einer durchschnittlichen Ausbruchsgröße von 4,8 Personen in Schulen (31 Ausbrüche mit 150 Ansteckungen, siehe Tabelle 2) und 5,1 Personen in Kindergärten (33 Ausbrüche, die zu 168 Neuinfizierten führten). Kam es in einem Restaurant zu einem Ausbruch, so wurden 7,2 Personen angesteckt (man wüsste gerne, wie viele Ausbrüche davon geschlossene Gesellschaften waren). Kam es in einem Heim zu einem Ausbruch, wurden mehr als 18 Personen angesteckt. Geschah ein Ausbruch in einem Krankenhaus, dann wurden durchschnittlich mehr als 10 Personen infiziert. Die meisten Ausbrüche (3902) geschahen allerdings naturgemäß im privaten Haushalt; da Haushalte in Deutschland nicht so groß sind, wurden dabei aber durchschnittlich nur 3,2 Personen angesteckt. An Universitäten fand das RKI übrigens nur einen einzigen Ausbruch (mit 4 Infizierten) im betrachteten Zeitraum. Kein Wunder, denn es sind (wenig beachtet durch die Medien) alle Universitäten seit April im fast vollständig virtuellen Modus (E-Learning statt Hörsäle). Und das geht im aktuellen Wintersemester 2020 auch so weiter.

 

Hier noch ein Nachtrag zu SEIR-Modellen:

Ich wurde darauf hingewiesen, dass die diskretisierte Form des SEIR-Modells einfacher zu verstehen ist. In der Tat wollte ich schon seit Langem den Octave-Quellcode hier besprechen. Allerdings kam ich nie dazu.

Hier daher die Iterationsvorschrift (entnommen aus der Octave/Matlab-Implementierung), die bei Diskretisierung mit dem expliziten Euler-Verfahren herauskommt (hier Schrittweite 1 Tag):

t=[1:n];
for i=t
  S(i+1)=S(i)-beta*S(i)*I(i);
  E(i+1)=E(i)+beta*S(i)*I(i)-alpha*E(i);
  I(i+1)=I(i)+alpha*E(i)-gamma*I(i);
  R(i+1)=R(i)+gamma*I(i);
endfor

Dabei sind S die Infizierbaren (susceptibles), E die Exponierten (exposed),  I die Infizierten (infected), und R die Geheilten oder Verstorbenen (recovered/removed). Alle diese Variablen nehmen Werte zwischen 0 (0 Prozent) bis 1 (100 Prozent) an.

Für die Parameter gilt: 1/alpha ist die Zeit in Tagen, in der “exponiert” zu “infiziert” wird (Latenzzeit), 1/beta die Zeit zwischen zwei Kontakten in Tagen, 1/gamma die infektiöse Zeit in Tagen.

Sinnvolle Werte können etwa sein:

alpha = 1/3;
gamma = 1/10;
beta = R0*gamma;

bevoelkerung=82000000;

Und als Start für die Infizierten istart=1000/bevoelkerung.

Natürlich kann man das Verfahren auch in jeder Tabellenkalkulation implementieren. Die Schrittweite von einem Tag ist zwar etwas ungenau, wenn man über viele Tage rechnet, aber es geht ja nicht um tagesgenaue Vorhersagen.

Hier die Übungsaufgabe aus dem Sommersemester aus der Veranstaltung Numerik für Mathematiker/innen. Diese Aufgaben könnte sogar in einer Tabellenkalkulation gelöst werden (aktuelles R: zwischen 1,2 und 1,4)

 

16. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Die zweite Corona-Welle da, aber sie ist flacher…

Die zweite Corona-Welle ist da, wie man an den Daten zu den gemeldeten Neuinfektionen sieht (hier die Daten von Sueddeutsche.de). Inzwischen ist klar, dass diese Welle kein Artefakt durch mehr Tests ist, sondern sie ist real. Eine Überlastung der Krankenhäuser wurde bisher vermieden, weil sich weniger ältere Menschen angesteckt haben. Laut RKI steigt der Anteil der Älteren seit Anfang September wieder.

Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen ist heute erstmals höher als sie in der ersten Welle waren.

Tag 0 in der Graphik ist der 01.03.2020. Die blaue Kurve sind die gemeldeten Neuinfektionen. Die rote Kurve ist der gleitende Mittelwert über 7 Tage. Es ist sinnvoll, den gleitenden Mittelwert zu betrachten, weil die Meldedaten klar vom Wochentag abhängen. Unklar ist natürlich immer noch die Dunkelziffer. Sie kann sehr viel höher liegen

In der Darstellung mit logarithmisch skalierter y-Achse sieht man, dass der exponentielle Anstieg flacher ist, als im März – klar, das RKI weist aktuell ein 7-Tage-R von 1,3 aus; das ist weit entfernt Werten um die 3 vom März.

Allerdings kommen die Warnungen der Politik und die Ankündigung von weiteren staatlichen Eindämmungsmaßnahmen (gestern beschlossen) später als in der ersten Welle.

Was würde passieren, wenn die Maßnahme unwirksam oder nur teilweise wirksam wären? Im Grunde steht die Antwort schon im Post über R=1,2.

Aber wir können wir uns dazu auch nochmal das SEIR-Modell ansehen (to be continued).

Was ist eigentlich der aktuelle Stand?

Das RKI meldet heute:

348.557 bestätigte Fälle in Deutschland seit Beginn der Pandemie

9.734 Verstorbene seit Beginn der Pandemie

geschätzte 287.600 Genesene

7-Tage-R-Wert: 1,3 (95%- Prädiktionsintervall: 1,12 – 1,49)

4-Tage-R-Wert: 1,22 (95%-Prädiktionsintervall: 0,92 – 1,52

06. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Trumps Corona-Infektion – Mediendiskussion übersieht Corona-Schnelltests

Wer den Schaden hat… – in diese Richtung gehen aktuell viele Kommentare in den Medien. Dabei wäre die Infektion ein Anlass über Corona-Schnelltests, ihre Eigenschaften und ihren sinnvollen Einsatz zu diskutieren.

Gerne wird darauf hingewiesen, dass Trump sich etwa auf der Nominierungsveranstaltung von Amy Coney Barrett für den obersten Gerichtshof der USA angesteckt haben könnte.

Die Veranstaltung im Rosengarten des Weißen Hauses war zwar draußen, aber Abstände wurden offenbar nicht eingehalten (in den USA gelten 6 Fuß Abstandsgebot, also ca. 2 Meter, nicht 1,50 Meter wie in Deutschland; gut, das Land ist ja auch größer), und es wurden keine (Alltags?) Masken getragen. Hätte das verboten gehört? Oder war es mindestens fahrlässig? Waren alle unverantwortlich? Oder war die Veranstaltung zumindest unklug für einen Regierungschef?

(Inzwischen sollte unstrittig sein, dass Alltagsmasken einen Effekt haben, siehe jüngste Veröffentlichungen hier zu kanadischen Daten, und hier zu Jena.)

Bemerkung nebenbei: Nach den aktuellen Coronaschutzverordnungen der deutschen Bundesländer wäre so eine Veranstaltung in Deutschland nicht grundsätzlich verboten, sofern für die Kontaktverfolgung Namenslisten geführt werden und feste Sitzplätze eingehalten werden. Etwa bestimmt die Coronaschutzverordnung von NRW vom 16.09.2020:Bei Veranstaltungen, Versammlungen oder Angeboten, bei denen die Teilnehmer auf festen Plätzen sitzen, kann für die Sitzplätze das Erfordernis eines Mindestabstands von 1,5 Metern zwischen Personen durch die Sicherstellung der besonderen Rückverfolgbarkeit nach § 2a Absatz 2 ersetzt werden.“ Ziel der Verordnungen ist durchaus nicht, jede Ansteckung zu verhindern. Ansteckungen sollen, nachdem sie passiert sind, nur nachverfolgt werden können. Auf dieser Grundlage öffnen etwa Theater in NRW wieder mit 60 Prozent Belegung.

Hier soll es aber um etwas anderes gehen: In nur wenigen Medien (etwa die sicherlich unverdächtige Washington Post) wird erwähnt, dass die Gäste der Veranstaltung im Rosengarten des Weißen Hauses zunächst durchaus Masken trugen. Nach einem Corona-Schnelltest wurde ihnen aber gesagt, dass es nun sicher sei, die Masken anzulegen:

Guests were administered rapid coronavirus tests upon arrival and waited in a room wearing masks, according to Jenkins, the Notre Dame president. Then, he wrote in a statement Friday, ‚we were notified that we had all tested negative and were told that it was safe to remove our masks.‘ “ (Washington Post, Oct. 3, 2020 at 4:32 a.m. GMT+2, Title: Invincibility punctured by infection: How the coronavirus spread in Trump’s White House)

Die Frage nach dem sinnvollen Einsatz von Schnelltests wäre eine intensive Mediendiskussion wert, inklusive der Eigenschaften von PCR und Antigen-Schnelltests, d.h. ihrer

Sensitivität (Anteil der Infizierten, die korrekt als infiziert erkannt werden)

und

Spezifität (Anteil der Gesunden, die korrekt als gesund erkannt werden).

Bemerkung: Der in Deutschland schon verfügbare Corona-Schnelltest der Firma Roche (aus rechtlichen Gründen in D kein Verkauf an Privatpersonen) gibt etwa eine Spezifität von 99,68% an und eine Sensitivität von 96,52%. Allerdings ist die Studie, auf der diese Zahlen basieren noch recht klein.

Da in Deutschland diskutiert wird, solche etwa Corona-Schnelltests für Besucher von Pflegeheimen einzusetzen, wäre es nun der richtige Zeitpunkt, ihre Eigenschaften zu diskutieren. Und warum ihr Einsatz im Falle vom Trump nicht ausgereicht haben könnte.

Nachtrag (6.10.2020): Die Firma Abbott gibt für ihren Covid-19 Antigen eine Sensitivität von 93,3%  und eine Spezifität von 99,4% an. Nach einigen Medienberichten wurde ein Test der Firma Abbott bei der Veranstaltung im Rosengarten des Weißen Hauses eingesetzt. Eine Sensitivität von 93,3% bedeutet dabei, dass fast 7 von 100 Infizierten nicht als infiziert identifiziert werden (falsch negativ).