25. April 2020 – Oliver Rheinbach Allgemein

Was passiert, wenn wir zur Normalität zurückkehren: Eine Katastrophe mit Ansage

Schon im ersten Blog-Beitrag zu SARS-CoV-2 habe ich geschrieben: Die Epidemie hat kein Gedächtnis.

Damit war gemeint: Kehren wir (mit weitgehenden Lockerungen) zurück zur Normalität, so kehren wir zurück auf den Weg geradewegs zur Katastrophe, nur mit leichter Verzögerung.

Hier das an die in vorherigen Beitrag an die Daten angepasste SIR-Modell. Hier wurde für Tag 22 bis Tag 44 der R0-Wert auf 0,9 gesetzt (beta=0,9/7), anschließend wieder auf 2,85 (beta=2,85/7).

Hier sieht man, dass sich durch die Reduktion von R0 auf 0,9 von Tag 22 (23.03.2020) bis Tag 44 (14.04.2020) die Kurven nur entsprechend verschoben werden. Das heisst, kehren wir zur Normalität zurück (mit R nahe 3), dann kommt die Katastrophe (überlastete Krankenhäuser, Triage, Anstieg der Sterblichkeit auf 10 Prozent und mehr, als Kollateralschaden auch erhöhte Sterblichkeit auch bei „unbeteiligten“ Patienten) genauso wie vorher. Nur etwas später.

Aus diesem Grund warnen Virologen vor zu vielen Lockerungen, und (vielleicht noch wichtiger) dem damit einhergehenden Verlust an Hygiene- und Distanzierungsdisziplin.

Hier noch dieselben Daten dargestellt mit logarithmisch skalierter y-Achse.

Hier sieht man auch deutlich die Abnahme der Infektionen zwischen Tag 22 und Tag 44, also während der Zeit, in der im Modell R0 auf 0,9 gesetzt wurde. Im Standardplot kann man das nicht erkennen, weil die Werte zu nahe an der x-Achse liegen.
Nach dem Ende der Phase mit R0=0,9 geht die Kurve aber unmittelbar wieder in das exponentielle Wachstum über (R0=2,85).
Die schwarzen Punkte sind wieder die Infektionsdaten aus Deutschland von NTV vom 01.03.2020 bis 21.03.2020, also die Phase des exponentiellen Wachstums, bevor die Hygienedisziplin und die Maßnahmen das Wachstum eingedämmt haben.

Hier werden wieder (nach diesem Modell) fast 30 Prozent der Bevölkerung gleichzeitig infiziert sein, mit den beschriebenen Konsequenzen.

Bemerkung: Anders als die Daten des Robert-Koch-Instituts im Dokument zur Schätzung von R0 (in der Retrospektive) Schätzung  diesem Dokument sind die Daten von NTV nicht um Diagnose und Meldeverzug korrigiert.

Es ist zwar zu erwarten, dass durch nun einstudierte Disziplin und Vorsicht die Wachstumsgeschwindigkeit niedriger bleibt als Anfang März, aber auch in diesem Fall kann das Wachstum zu schnell werden. Davor, dass die Situation wieder außer Kontrolle geraten könnte, warnte Christian Drosten (relativ zurückhaltend) schon vor einigen Tagen, das RKI hatte ebenfalls gewarnt. Nun eine erneute Warnung von Christian Drosten im ORF: Die aktuellen Lockerungen, die derzeit in vielen Ländern stattfinden, dürften auch aufgrund von Unsicherheiten und nicht intendierten Effekten entsprechende Folgen nach sich ziehen, und man müsse damit rechnen, dass die Infektionen wieder auf ein „nicht mehr erträgliches Maß“ steigen.

Inzwischen gibt es breite Warnungen durch Wissenschaftler, z.B. den Epidemiologen Timo Ulrichs (am 27.4.) oder Melanie Brinkmann (schon am 23.4.).

Das werden wir mithilfe des einfachen SIR-Modells in den kommenden Tage hier mal nachrechnen.

Bemerkung: Im SIR-Modell gibt es keine Inkubationszeit, so dass das SIR-Modell die Geschwindigkeit der Ausbreitung eher überschätzt, daher betrachten wir vielleicht ein leicht erweitertes Modell.

Bemerkung (27.4.2020): Die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) hat heute ein Stellungnahme herausgegeben, in der sie unter Anderem auf Basis von SEIR-Simulationen schreibt, dass im Fall einer kompletten Rücknahme aller Maßnahmen (die allerdings aktuell niemand plant)  „schnell erneut ein exponentielles Wachstum eintreten“ würde.

Die DGEpi schreibt: „Es muss vielmehr eine Situation geschaffen werden, in der die Zahl der neu infizierten Personen soweit reduziert wird, dass die Nachverfolgung dieser Fälle und ihrer Kontakte und anschließende Quarantäne durch die Gesundheitsbehörden möglich wird.

Sie empfiehlt eine „Containment„-Strategie, d.h. „eine wirkungsvolle und schnelle Nachverfolgung von Kontakten von Infizierten“ noch während „allgemeine kontaktreduzierende Maßnahmen gelten“ durch die Gesundheitsbehörden und, möglicherweise, eine App, sofern sie „Datensouveränität“ sicherstellt.

Allerdings, aktuell „scheint […] eine weitere Reduktion der Zahl der Neuinfizierten notwendig, um die Gesundheitsbehörden in die Lage zu versetzen, durch Nachverfolgung, Isolations- und Quarantänemaßnahmen die weitere Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu halten.

Bemerkung (27.04.2020): Der heutige Lagebericht des RKI (Situationsbericht von 27.04.2020) enthält auf Seite 8 ein aktualisiertes Nowcasting und schätzt, dass R0 bereits wieder auf den Wert 1,0 gestiegen ist. Die Anzahl der Neuinfektionen geht damit nicht mehr zurück.

2 Gedanken zu „Was passiert, wenn wir zur Normalität zurückkehren: Eine Katastrophe mit Ansage“

  1. Frechheit. Ich bin dafür, die Corona Einschränkungen aufzuheben und das sofort. Ich brauche Umarmungen, aber von Hunden, Katzen und meinen Freunden in meinem großen Freundeskreis.
    Aber sollte ich krank sein, heißt es, sofort Ruhephasen einlegen und dann erst wieder kuscheln, wenn die Grippewelle ausgestanden ist und ich wieder ganz gesund bin. Aber die Maskenpflicht geht mir schon langsam auf den Keks!

    Elli

    1. Sehr geehrte Frau Sturm,
      die Beitrag auf den Sie sich beziehen ist vom April 2020. Heute ist die Lage etwas anders – vor allem durch die fortgeschrittenen Impfungen.

      Allerdings gibt es Ähnlichkeiten zur damaligen Lage: Die kommende Delta-Welle ist schon sichtbar und leider kaum noch abzuwenden. Da die Impfungen (nach vorläufigen Daten aus Israel) nicht mehr vollständig vor Delta-Infektionen schützen (und damit wahrscheinlich auch vor der Weitergabe der Krankheit) und ein großer Teil der Bevölkerung (Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene) nicht oder kaum geimpft sein wird, werden spätesten im Herbst die Infektionen stark ansteigen.

      Dazu kommen Reiserückkehrer etc. Exponentielles Wachstum haben wir in Deutschland ja bereits seit 2 Wochen. Es ist erstaunlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung (und der Politik) sich so verhält, als wäre die Pandemie vorbei. Immerhin wird die Deltawelle nicht mehr so viele Menschen aus den Risikogruppen ins Krankenhaus bringen, da sie zu großen Teil geimpft sind. Allerdings ist für ältere Menschen auch bei vollständiger Impfung (die Impfungen wirken bei älteren Menschen schlechter) das Risiko einer Deltainfektion nicht Null.

      Ein weiteres Problem: Eine Delta-Welle mit hoher Inzidenz, bei einer nur teilweise geimpften Bevölkerung, bedeutet das Risiko, dass weitere neue Corona-Varianten im Land (oder in der EU) gezüchtet werden, für die die Impfungen noch schlechter wirken.

      Was die Masken angeht, muss ich sagen, dass sie (neben dem Abstandhalten) das mildeste, wirksame Mittel ist, das wir gegen Corona haben. Ich jedenfalls ziehe das Maskentragen anderen Mitteln wie Ausgangssperren, Kontaktsperren etc. vor.

      Zur Ihrer persönlichen Strategie: Das Tückische an Corona (und der Grund für die weltweite Verbreitung) war von Beginn an, dass es bereits 2 bis 4 Tage vor Symptombeginn ansteckend ist, siehe auch hier: https://blogs.hrz.tu-freiberg.de/numerikundco/2021/02/01/ein-jahr-corona-ist-ein-strategiewechsel-notwendig/

      Wenn Sie sich also mit Grippesymptomen ins Bett legen, haben Sie Ihre Lieben schon längst angesteckt. Delta könnte noch früher ansteckend sein, die Viruslast steigt jedenfalls nach der Ansteckung viel schneller an. Eigentlich müsste das RKI nun die Kontaktverfolgungsregeln anpassen:

      „Daily sequential PCR testing of the quarantined subjects indicated that the viral loads of Delta infections, when they first become PCR+, were on average ∼1000 times greater compared to A/B lineage infections during initial epidemic wave in China in early 2020, suggesting potentially faster viral replication and greater infectiousness of Delta during early infection.“ https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.07.07.21260122v2

      Uebrigens: Von Haustieren sind Corona-Infektionen nur anekdotisch berichtet.

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