24. April 2020 – Oliver Rheinbach

Modellierung von Epidemien mit einem einfachen Modell (SIR-Modell und SARS-CoV-2-Daten)

Um Entscheidungen zu Epidemien zu treffen (oder zu verstehen) muss man zuerst exponentielles Wachstum verstehen: aus 100 Infizierten werden schon nach 20 Verdopplungen 100 Millionen Infizierte.

Dieses explosive Wachstum führt dazu, dass Krankenhäuser überlastet werden. Um die Geschwindigkeit des Wachstums zu reduzieren, kam es in fast allen Ländern der Welt mit exponentiell schnellen Ausbrüchen zu radikalen Maßnahmen, wie etwa die Kontaktbeschränkungen (+weiteren Maßnahmen) in Deutschland. Einige Länder kamen ohne solche Maßnahme aus, weil Sie den jeden Ausbruch früh genug unter Kontrolle bekommen haben. Italien, Frankreich und Spanien hatten dagegen deutlich strengere Maßnahmen als Deutschland (d.h. echte Ausgangssperren), mit ähnlichem Erfolg wie Deutschland.

Exponentielles Wachstum tritt am Anfang einer Epidemie auf. Durch erworbene Immunität schwächt sich die Epidemie ab, sobald ein substantieller Anteil der Bevölkerung die Infektion durchgemacht hat.

Die einfachsten Modelle, die dieses Verhalten beschreiben, sind die schon erwähnten SIR-Modelle und verfeinerte Varianten davon. Solche Modelle sind nötig, um Fragen zu beantworten wie: Wie hoch wird die Zahl der gleichzeitig Infizierten maximal sein und wann wird das sein? Wie hoch wird der Anteil der Bevölkerung sein, der sich im schlimmsten Fall ansteckt? Auch das RKI verwendet Varianten von SIR-Modellen für Grippesimulationen und jetzt auch für SARS-CoV-2.

Es gibt ein paar Online-Rechner zu SIR-Modellen, zum Teil mit sehr vielen Parametern. Das einfachste Modell kommt jedoch mit zwei Parametern aus: alpha und beta. Die sogenannte Basisreproduktionszahl R0, über die zur Zeit so viel diskutiert wird, ist dann der Quotient beta/alpha.

Das Modell hat nur drei Variablen:

  • S (susceptibles; Ansteckbare)
  • I (infected; Infizierte)
  • R (recovered/removed; Geheilte oder Verstorbene)

Die Werte der Variablen liegen immer zwischen 0 und 1, was sich dann als 0 Prozent bis 100 Prozent der Bevölkerung interpretieren lässt.

Das SIR-Modell wird durch ein System gewöhnlicher Differentialgleichungen beschrieben (vielleicht folgt in einem weiteren Beitrag die diskretisierte Variante, die dann ohne sichtbare Ableitung auskommt), in der einfachsten Variante:

  • S'(t)=-beta*S(t)*I(t)
  • I'(t)=beta*S(t)*I(t) – alpha*I(t)
  • R'(t)=alpha*I(t)

Hier gibt die Konstante beta an, wieviele andere ein Infizierter pro Zeiteinheit (z.B. pro Tag) ansteckt. Aus I(t) Infizierten (z.B. 10 Prozent der Bevölkerung) werden also nach einem Tag beta*I(t) Infizierte (also z.B. 15 Prozen, wenn beta=3/2), sofern jeder infizierbar ist. Da aber nur S(t) infizierbar ist (90 Prozent sind noch infizierbar, weil 10 Prozent ja schon infiziert sind), wird noch mit S(t) multipliziert.

Die mittlere Gleichung sagt also: Pro Tag kommen beta*S(t)*I(t) Infizierte dazu (immer in Prozent gerechnet, da alle Variablen zwischen 0 und 1 sind).

Die erste Gleichung sagt, dass die Anzahl der Infizierbaren entsprechend sinkt.

Die letzte Gleichung sagt, dass pro Zeiteinheit (z.B. pro Tag) ein Anteil alpha der Infizierten gesundet (oder stirbt, das wird hier nicht unterschieden). Daher ist 1/alpha ist die durchschnittliche Krankheitsdauer (z.B. 7 Tage).

Wenn beta die Infektionen pro Tag sind und 1/alpha die Krankheitsdauer in Tagen, dann sind beta/alpha die Infektionen, die ein Kranker während seiner gesamten Krankheit verursacht (wenn niemand immun oder bereits infiziert ist). Das ist die Basisreproduktionszahl R0.

Das Modell weicht natürlich von der Realität der SARS-CoV-2-Epidemie ab. Beispiel: Ein Infizierter ist im Modell während seiner Krankheit jeden Tag gleich ansteckend. Bei SARS-CoV-2 ist es so, dass ein Infizierter in den ersten Tagen nach seiner eigenen Infektion besonders ansteckend ist (mit einem Höhepunkt am Tag unmittelbar vor dem Symptombeginn), obwohl er noch keine Symptome hat (im Median 5 Tage lang). In der zweiten Woche ist ein Infizierter kaum mehr ansteckend (außer bei engem Kontakt z.B. mit Krankenhauspersonal) – obwohl er sich dann erst richtig krank fühlt.

Aus diesem Grund wollen wir für unser Modell 1/alpha = 7 Tage Krankheitsdauer annehmen. Das heißt, wir nehmen an, dass alle Ansteckungen während der ersten 7 Tage passiert (und ignorieren die zweite Krankheitswoche des durchschnittlichen Covid-19-Patienten).

Wenn wir nun versuchen, beta so zu wählen, dass es auf die SARS-CoV-2-Infektionsdaten in Deutschland vom Anfang März 2020 passt, bekommen wir den folgenden Verlauf (S blau, I rot, R grün). Tag 0 ist wieder der 1. März 2020. Die genauen Parameter sind beta=2.85/7 und alpha=1/7. Dementsprechend ist R0=2.85, also knapp unter 3. Das passt grob zur (rückwärts berechneten) Schätzung des RKI von R0 für Anfang März 2020 und zu anderen Quellen.

Dieses Szenario beschreibt, was passiert wäre, hätte es gar keine eindämmenden Maßnahmen gegeben – für diesen Fall ist dieses einfache Modell sogar relativ gut geeignet. Man sieht, dass kurz nach Tag 50 (genauer: am Tag 54, das wäre der 23. April 2020 gewesen, also vorgestern) das Maximum bei den Infizierten erreicht wird (rote Kurve): Es sind an diesem Tag fast 30 Prozent (genauer: 28 Prozent) der Bevölkerung gleichzeitig infiziert. Eine Katastrophe für die Krankenhäuser, denn selbst wenn nur ein Prozent schwere Verläufe angenommen werden, bedeutet das über 200000 Schwerkranke (bei aktuell 30000 Intensivbetten in Deutschland, von denen maximal 2/3 für Covid-19 zur Verfügung stehen werden.)

Ingesamt werden innerhalb der 100 Tage Berechnungszeit über 90 Prozent der Bevölkerung infiziert (grüne Kurve).

Ich habe oben geschrieben, dass beta=2.85/7 (bei angenommenen alpha=1/7, also 7 Tage Erkrankungsdauer) so gewählt wurde, dass es zu den deutschen Daten von Anfang März passt. Hier ist dargestellt, wie gut es passt:

Der Vergleich von I(t) (rote Kurve) mit den Infektionszahlen (Daten von NTV, siehe den allerersten Blog-Beitrag) geteilt durch 80 Millionen (schwarze Punkte). Die Kurve passt gut.

Hier die Messwerte (schwarze Punkte) noch einmal, aber eingetragen ein einen semilogarithmischen Plot von S, I und R (in der Standarddarstellung wie oben, könnte man nichts zu erkennen).

Man sieht, dass die rote Kurve sehr gut zu den Infektionszahlen in Deutschland (1. März bis 21. März 2020) passt. Da die y-Achse logarithmsch aufgetragen ist (semilog) ist, ist die Phase des exponentiellen Wachstums als Geradenabschnitt zu sehen. Die Steigung passt gut zusammen.

Im ersten Beitrag haben wir gesehen, dass das exponentielle Modell für den Tag 40 etwa 4,4 Millionen Infizierte prognostiziert hat. In der semilogarithmischen Plot (y-Achse logarithmisch) sieht man, dass das exponentielle Modell ungefähr bis Tag 45 gültig ist, hier der Ausschnitt bis Tag 45:

Das bedeutet aber, dass auch dieses Modell (ohne Eindämmungsmaßnahmen) vorhersagt, dass innerhalb von 40 Tagen aus 100 Infizierten mehr als 4 Millionen werden (etwa 5 Prozent der Bevölkerung bzw. 5e-2).

Nach Tag 45 ist die Phase des exponentiellem Wachstum (mit konstantem Wachstumsfaktor) beendet. Allerdings sind nach Tag 46 fast 15 Prozent der Bevölkerung infiziert (entsprechend 12 Mio Infizierten) – erst dann kommt es zu einer sichtbaren Abschwächung des Wachstums.

Bemerkung zu R0: Wenn man aus echten Daten den Wert von R0 schätzen will, muss man immer eine Generationenzeit annehmen. Das RKI berechnet R0 so (S. 14):

„Bei einer konstanten Generationszeit von 4 Tagen, ergibt sich R als Quotient der Anzahl von Neuerkrankungen in zwei aufeinander folgenden Zeitabschnitten von jeweils 4 Tagen. Der so ermittelte R-Wert wird dem letzten dieser 8 Tage zugeordnet, weil erst dann die gesamte Information vorhanden ist. Daher beschreibt dieser R-Wert keinen einzelnen Tag, sondern ein Intervall von 4 Tagen. Das dazu gehörende Infektionsgeschehen liegt jeweils eine Inkubationszeit vor dem Erkrankungsbeginn. Hat sich die Anzahl der Neuerkrankungen im zweiten Zeitabschnitt erhöht, so liegt das R über 1. Ist die Anzahl der Neuerkrankungen in beiden Zeitabschnitten gleich groß, so
liegt die Reproduktionszahl bei 1. Dies entspricht dann einem linearen Anstieg der Fallzahlen. Wenn dagegen nur jeder zweite Fall eine weitere Person ansteckt, also R = 0,5 ist, dann halbiert sich die Anzahl der neuen Infektionen innerhalb der Generationszeit.“

Schlussbemerkungen: Wir haben nur zwei Parameter (beta und alpha), dennoch gibt es noch andere Kombinationen von beta und alpha, die ähnlich gut zu den Daten passen. Sie liefern aber auch Ergebnisse, die ähnlich sind.

Eigentlich wollte ich Ihnen Octave-Implementierung (entweder mit Euler oder mit dem eingebautem ODE-Löser) an die Hand geben, damit Sie die Rechnungen nachvollziehen können – das verschieben wir aber.

Korrektur (06.07.2020): In der zweiten Gleichung des (einfachsten) SIR-Modells fehlte „- alpha*I(t)“. Danke für den Hinweis.

 

 

 

19. April 2020 – Oliver Rheinbach

Regierungssprecher formuliert das Ziel „R von 1,0“

Nach Medienberichten hat der Regierungssprecher Helge Braun die Strategie der Bundesregierung mit den Worten beschrieben: „Die Zahl der täglichen Neuinfektionen sollte auf einem gleichbleibenden Niveau sein. Das entspricht einer Basisreproduktionszahl R von 1,0 und bedeutet, dass ein Infizierter nur einen weiteren Menschen ansteckt.“ (Zitiert nach T-online).

Eine Herdenimmunität durch Durchseuchung wird demnach nicht angestrebt (wegen sicherer Überlastung des Gesundheitssystems): „Um nur die Hälfte der deutschen Bevölkerung in 18 Monaten zu immunisieren, müssten sich jeden Tag 73.000 Menschen mit Corona infizieren. […] So hohe Zahlen würde unser Gesundheitssystem nicht verkraften und könnten auch von den Gesundheitsämtern nicht nachverfolgt werden.“ (Zitiert nach T-online).

Und „Daher lautet die Strategie, Ansteckungen zu vermeiden und bezüglich der Immunität auf die Einsatzfähigkeit eines Impfstoffs zu warten.“ (Zitiert nach T-online).

Damit ist klar auch, dass eine (kurzfristig teure) Eindämmung (mit R deutlich kleiner als 1, etwa nach dem Vorbild asiatischer Länder) von der Bundesregierung nicht angestrebt wird. Als Grund wird angegeben: „Politisch müssen wir bedenken, dass Deutschland sich mitten in Europa aufgrund der Pendlerströme und Wirtschaftsverkehre nicht so gut abschotten kann und will. […] Selbst wenn wir das Virus stark zurückdrängen, kommt es dann aus dem Ausland immer wieder zurück.“ (Zitiert nach T-online).

Dazu ist zu bemerken, dass die bislang geltenden Maßnahmen einschneidend und (kurzfristig) sehr teuer sind. Allerdings bedeutet ein R nahe 1 eine instabile Lage, die jederzeit außer Kontrolle geraten kann – und selbst im besten Fall ein langes Andauern der Epidemie-Lage bedeutet, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht (Simulationen dazu folgen).

Es ist auch festzustellen, dass die Strategie „R nahe 1“ (+Spekulieren auf einen Impfstoff) als auch die Umsetzung der Stategie den wissenschaftlichen Empfehlungen widerspricht:

  • Diese Strategie widerspricht der Empfehlung der Helmholtz-Iniative.
  • Die Bedingungen, die die Leopoldina für eine Lockerung der Maßnahmen (Maskenpflicht, Verfolgungsapp) sind nicht erfüllt worden.

Bemerkung (20.4.2020): Inzwischen hat nach Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern auch Bayern eine Maskenpflicht angekündigt. Jena hat schon länger eine Maskenpflicht und ist damit erfolgreich.

Bemerkung (22.4.2020): Weiter Bundesländer haben inzwischen nachgezogen und werden eine (teilweise) Maskenplicht einführen. Bislang galt nur eine dringende Aufforderung zum Maskentragen.

Bemerkung zur App (22.4.2020): Die Daten einer Infektionsverfolgungsapp lassen sich am besten schützen, wenn sie gar nicht erst zentral gespeichert werden.

Schlussbemerkung: Eine Optimierung von R mit der Anzahl der Intensivbetten (30000, davon aktuell 13000 frei) oder der Anzahl der Beatmungsgeräte als obere Schranke (Optimierung unter Nebenbedingungen) vernachlässigt, dass auch unter diesen Bedingungen viele Patienten sterben oder bleibende Schäden behalten. So sterben offenbar aktuell in New York über 80 Prozent der Covid-19-Patienten, die beatmet werden, in Großbritannien zwei Drittel.

Bemerkung (zu R): Heute wird in den Medien die Schätzung von R durch das RKI viel diskutiert. Gemeint ist dabei Abbildung 5 im schon oben verlinkten Bulletin des RKI von 15.4.2020 (hier der direkte Link zum PDF, Abb. 5 ist auf S. 14). Wichtig dabei ist, dass die Daten bearbeitet wurden (Nowcasting, eine Form der Extrapolation), d.h. sie wurden rechnerisch „um Diagnose-, Melde-, und Übermittlungsverzug“ korrigiert. Das heißt, die Korrektur soll etwa kompensieren, dass Gesundheitsämter Fälle noch nicht in das Meldesystem des RKI eingetragen haben. Außerdem dauert es einige Zeit, bis nach einer Erkrankung eine sichere Diagnose gestellt wird.
Wichtig in unserem Zusammenhang ist, wie das RKI begründet, dass R nach Mitte März nicht weiter gesunken ist (S. 17): 1. Die Testkapazitäten wurden erweitert, so dass mehr Fälle sichtbar wurden. 2. Mehr ältere Menschen haben sich angesteckt, auch durch Ausbrüche in Heimen und Krankenhäusern.
Während der erste Effekt rechnerisch ist, ist der zweite Effekt real: Auf dem Weg durch die Bevölkerungsgruppen trifft das Virus auch auf neue, schnellere Verbreitungsmöglichkeiten, wie etwa Pflegeheime. Es ist zu erwarten, dass dieser Effekt andauert.

Bemerkung (25.4.2020): Inzwischen hat die Bundeskanzlerin in einer Rede im Bundestag die Lockerungen als „zu forsch“ bezeichnet und auch das Robert-Koch-Institut warnt nun offiziell in einer Pressekonferenz vor weiteren Lockerungen. Weitere Lockerungen seien erst bei „wenigen Hundert“ Infektionsfällen pro Tag möglich, weil erst dann die Gesundheitsämter wieder zur Kontaktverfolgung (+Quarantäne) fähig sind. Aber: „Derzeit melden die Ämter im Durchschnitt täglich noch rund 2.000 Neuinfektionen in Deutschland.“. – Allerdings scheint es, als ob ein großer Teil der Medien, Wirtschaft und ein großer Teil der Bundesländer nun andere Prioritäten im Vordergrund sehen wollen.

Bemerkung (26.4.2020): Schon am 22.4. hat sich das RKI vorsichtig kritisch zu Lockerungen geäußert: „Eine unkontrollierte Lockerung der Maßnahmen und eine Rückkehr zu „prä-Pandemie-Verhalten“ würde somit zu einem erneuten Anstieg der täglichen Fallzahlen und einer Annäherung der effektiven Reproduktionszahl an die Basisreproduktionszahl führen.

Bemerkung (26.4.2020): Christian Drosten äußert sich in der SZ zu R und äußert sich kritisch über die Lockerungen.

 

18. April 2020 – Oliver Rheinbach

Verdopplung, Verdopplung (Verdopplungszeiten bei SARS-CoV-2-Infektionen)

Anfang März 2020 verdoppelte sich die Zahl der SARS-CoV-2-Infizierten alle 2 bis 3 Tage (siehe auch die Abbildung hier).

Die Verdopplungszeit ist eine griffige Art, exponentielles Wachstum und seine Geschwindigkeit greifbarer zu machen. Relativ schnell haben fast alle Medien Verdopplungszeiten zusätzlich zu den Infektionszahlen angegeben, offenbar (auch?) inspiriert von einem Blog. (Der kleine Bruder der Verdopplungszeit ist die Halbwertszeit – Ältere erinnern sich noch an Tschernobyl, aber das ist eine andere Geschichte.)

Bei exponentiellem Wachstum f(t)=eat für ein a>0 ist die Verdopplungszeit tV=ln(2)/a, wie man schnell nachrechnet. Eine schnelle Probe: Für a=ln(2), also f(t)=eln(2)t=2t ist die Verdopplungszeit dann natürlich tV=1.

Folgt eine Größe (etwa die Infektionszahlen) einem exponentiellem Wachstumsgesetz f(t)=eat, ist die Verdopplungszeit konstant (s.o.). Ändert sich die Verdopplungszeit, ist es keine Exponentialfunktion eat mehr.

Übrigens, fast alle BWLer und Bänker kennen die sogenannte 70er-Regel: Wächst die Zahl der Infizierten jeden Tag um x Prozent, dann ist die Verdopplungszeit (ungefähr) 70/x. Bei 5 Prozent Zinsen verdoppelt sich die Einlage also in 14 Jahren. Die Regel kommt daher, dass ln(2) ungefähr 0,69315 ist, also fast 0,7.

Nochmal Übrigens: Jeder Informatiker hat im Kopf, dass 210=1024, also ungefähr 1000. Demnach ist 220 unfähr eine Million. Das wiederum heißt, dass aus einem einzigen Infiziertem nach 26 Verdopplungen mehr als 64 Millionen Infizierte werden. Übrigens, 1 KiB=1024 Byte und 1 kB=1000 Byte.

Bei einer Verdopplungszeit von 2,6 Tagen, wie sie SARS-CoV-2 sie in Deutschland Anfang März hatte (siehe hier), hätten also etwas mehr als 2 Monate genügt, bis die gesamte deutsche Bevölkerung infiziert gewesen wäre. (Allerdings folgt eine Durchseuchung nur in der Anfangsphase einem exponentiellen Gesetz.)

Die Verdopplungszeit machte Karriere, als ihre Verlängerung auf 10 oder mehr Tage erklärtes Ziel der Bundesregierung wurde. Spätestens jetzt fingen Diskussionen an, denn wie die Verdopplungszeit berechnet werden soll, wenn gar keine Exponentialfunktion eat vorliegt. Die Zeitung „Die Zeit“ etwa gibt in ihren Graphiken an, wieviele Tage es her ist, dass die Infiziertenzahl halb so hoch war wie heute. Andere Medien scheinen die Verdopplungszeit anhand der Infiziertenzahlen der letzten (beiden?) Tage zu berechnen.

Ein Analysis-Professor aus Bielefeld hat in den Medien (etwa hier und hier) und auf Youtube die Verdopplungszeit(en) und ihre Berechnung diskutiert und ein mathematisch relativ naheliegendes Verfahren zur Berechnung vorgeschlagen: Da die Verdopplungszeit sich ändert, sollte man Daten aus den letzten Tagen nehmen, aber mehr als nur die letzten zwei Tage, um Schwankungen wegen Wochenendeffekten etc. zu verringern. Zum Beispiel könnte man daher die letzten 7 Tage nehmen.

Diese Zahlen werden dann logarithmiert. Anders als hier, zu Anfang der Epidemie und ohne Maßnahmen, werden die Datenpunkte nun eher nicht auf einer Geraden liegen. Daher ist es sinnvoll, mit der Methode der Kleinsten Quadrate eine (möglichst einfache) Kurve die Daten anzupassen. Einfach ist etwa ein Polynom zweiten Grades. Letztlich ist man an dann der Steigung der Kurve am heutigen Tag interessiert, also an der Ableitung des Polynoms zum heutigen Zeitpunkt.

Wenn man die Verdopplungszeiten als Leistungsparameter definieren will, ist das sicher eine gute Methode. Das Verfahren ist z.B. exakt, wenn (nach Logarithmierung) tatsächlich ein Polynom zweiten Grades vorliegt (anders als wenn man nur die letzten zwei Tage auswertet).

Letztlich ist aber die Verdopplungszeit vielleicht gar kein gutes Maß, denn wir wollen die Epidemie ja eindämmen, also bestenfalls überhaupt kein Wachstum mehr haben. Tatsächlich weisen eigene Medien für asiatische Länder, die erfolgreiche Eindämmung betrieben haben (erfolgreicher als Europa?) , Verdopplungszeiten von unendlich aus.

Stattdessen wird jetzt über die Reproduktionszahl R bzw. R0 gesprochen. Dieser Begriff hat aber auch seine Schwierigkeit, weil dazu eigentlich eine Zeitskala gehört, etwa die Generationenzeit. Hier ein Artikel zur Schätzung von R0 und der Generationenzeit für SARS-CoV-2 zum Zeit des exponentiellen Wachstums in China.

16. April 2020 – Oliver Rheinbach

Zahlen, Zahlen, Zahlen (exponentielles Wachstum bei SARS-CoV-2)

SARS-CoV-2-Eindämmung

Generell kommen in deutschen Medien, in der deutschen Politik und selbst in der Geschichtsschreibung zu wenig Zahlen vor. Aktuell werden jedoch im Kontext der SARS-CoV-2-Epidemie durchaus Zahlen diskutiert – Infiziertenzahlen, Dunkelziffern, Sterberaten, Verdopplungszeiten, Reproduktionszahlen, Generationszeiten sorgen aber auch für Verwirrung. Dies wird ein Versuch werden, die Verwirrung zu reduzieren und dabei Mathematik zu diskutieren.

Zunächst ein Appell: Nehmen sie die durch SARS-CoV-2 hervorgerufene Krankheit Covid-19 ernst. Aktuell sterben in Deutschland fast 3 Prozent der Erkrankten; in Italien, Frankreich, und Schweden sind es 10 Prozent und mehr (auch wenn dort eine höhere Infizierten-Dunkelziffer vermutet wird). Auch die Überlebenden können bleibende Schäden (etwa durch die Beatmung) behalten.

Warum die „Lockerungen“ keine Lockerung der Anstrengungen sein dürfen (17.04.2020).

Die großen, teuren und schmerzhaften Eindämmungsanstrengungen seit dem 13.03.2020 (Kindergartenschließungen, Schulschließungen, Schließung der Universitäten, Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote) haben nach Daten des Robert-Koch-Instituts (gerade so) genügt, das exponentielle Wachstum der Infektionen zu stoppen: Die Reproduktionszahl R ist von ca. R=3 auf knapp unter R=1 gesunken; (allerdings handelt sich dabei immer um geschätzte Werte). Dabei bedeutet R>1 exponentielles Wachstum und R<1 exponentielle Reduktion der Neuinfektionen. Die Reproduktionszahl wird gerne so interpretiert, dass ein Infizierter durchschnittlich R gesunde Menschen ansteckt. Zu einer Reproduktionszahl gehört immer auch eine Generationenzeit (siehe auch serial interval, Serien-Intervall). Mehr dazu später. Das Robert-Koch-Institut nimmt für seine Rechnungen aktuell 4 Tage als Generationenzeit an. Auf den genauen Wert (der unsicher ist und sich zeitlich verändern kann) kommt es nicht unbedingt an (in einige Publikationen wird ein Wert um die 5 Tage angenommen, andere Artikel übernehmen den Wert von ca. 8 Tagen von SARS-1); wird eine andere Generationenzeit angenommen, kommt man zu einem anderen R. Mehr dazu irgendwann später. Wichtig ist eigentlich nur das Wachstumsverhalten: Haben wir exponentielles Wachstum, lineares Wachstum oder ein Abklingen? (Natürlich ist in der Realität auch die Geschwindigkeit des Wachstums wichtig, aber dazu später mehr beim Thema Verdopplungszeiten.)

Die nun aktuell am 15.04.2020 beschlossenen Corona-Regel-Lockerungen kommen zu einem frühen Zeitpunkt, d.h. bei R ungefähr 1 und aktuell mehr als 50000 aktiven Infektionen. Nach Einschätzung von Helmholtz-Wissenschaftlern kommen die Lockerungen zu früh. Auch das versuchen wir hier zu (er)klären.

Dabei ist wesentlich, dass bei SARS-CoV-2 die Hälfte der Ansteckungen passiert (der genaue dort genannte Wert ist 46 Prozent; hier die Originalarbeit, auf die Bezug genommen wird), wenn keine oder noch keine Symptome vorliegen, der Ansteckende also gar nicht ahnt, dass er andere gefährdet. Dies ist der wesentliche Unterschied zu früheren Epidemien, wie SARS-1 oder MERS. Und genau deswegen haben die herkömmliche Strategien der Gesundheitsämter, Fallverfolgung+Quarantäne, weder in China (im Dezember 2019) noch in Deutschland (im Februar und März 2020) SARS-CoV-2 eindämmen können.

Es ist zum Glück nicht zu erwarten, dass wir durch die Lockerungen zu einem R in der Nähe von 3 zurückkehren, d.h. zu exponentiellem Wachstum in der Geschwindigkeit wie am Anfang der Epidemie in Deutschland – die Abbildung unten visualisiert die Infektionszahlen vom 01.03.2020 (Tag 0) bis zum 21.03.2020 (Tag 20) in Deutschland. Denn es ist zu hoffen, dass die Menschen inzwischen vorsichtiger und geübter geworden sind.

Es ist an dieser Stelle vielleicht wichtig, sich klar zu machen, was ohne die Eindämmungsmaßnahmen geschehen wäre: Schon am Tag 40 (d.h. am 10.04.2020) wären über 4 Millionen Menschen in Deutschland infiziert gewesen (siehe Abbildung unten). Bei einer aktuellen Sterblichkeit in Deutschland von 2,7 Prozent hätte das über 100000 Tote bedeutet. Auch falls die Sterblichkeit näher bei 1 Prozent liegen würde (was vorläufige Ergebnisse der Heinsberg-Studie suggerieren könnten), wären das etwa 40000 Tote (statt aktuell unter 4000). Auch hätten wir bereits im April 2020 apokalyptische Bilder in den Krankenhäusern gehabt – und wir wissen (aus China und Italien), dass bei einer „Überlastung des Gesundheitssystems“ die Sterblichkeit auf 10 Prozent und mehr steigt. Mit „Überlastung des Gesundheitssystems“ werden dabei gerne Zustände umschrieben, die die Abweisung von Patienten am Krankenhauseingang, die Selektion von Kranken nach Überlebenschancen und hohe Ansteckungsgefahr für das Krankenhauspersonal selbst bedeuten. Letzeres wiederum kann zum kompletten Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen, mit ernsten Folgen auch für die Kranken, die nicht Covid-19 haben.

In die folgende Abbildung ist eine Ausgleichsgerade (durch die Infektionsdaten vom 01.03.2020 bis zum 21.03.2020) eingezeichnet, berechnet mit der Methode der Kleinsten-Quadrate. Die Skala auf der y-Achse ist logarithmisch, damit exponentielles Wachstum einer Geraden entspricht. Tag 0 wurde als der 01.03.2020 gewählt, weil da die Anzahl der Infizierten erstmals dreistellig wurden. Dies ist inspiriert von der Darstellung von NTV, woher auch die Daten kommen (nicht vom RKI). Hier entspricht die Steigung der rot gestrichelten Linie einer Verdopplungszeit von 3 Tagen und die Steigung der magentafarben gestrichelten Linie einer Verdopplungszeit von 2 Tagen. Die Steigung der Ausgleichsgeraden entsprechen einer Verdopplungszeit von etwa 2,6 Tagen. Gemäß der Geraden wurden für den Tag 40 (10.04.2020) mehr als 4,4 Millionen Infizierte prognostiziert.

Die eingezeichnete Gerade lässt sich natürlich nicht für alle Zeiten als Prognose verwenden, auch nicht bis 80 Millionen. Das implizierte exponentielle Modell verliert deutlich vor der kompletten Durchseuchung der 80 Millionen Menschen in Deutschland seine Gültigkeit (siehe die typischen Verläufe aus SIR-Modellen). Bei einer angenommenen Immunität nach Erkrankung wird sich (bei angenommenem R=3) letztlich mehr als 2/3 der Bevölkerung anstecken (die in den Medien oft erwähnten 70 Prozent). Die Überschlagsrechnung dazu geht so: Wenn (mehr als) 2 von den 3 Angesteckten immun sind, wird die Epidemie exponentiell abklingen. Auch während des Abklingens kommen natürlich noch ein paar Infizierte dazu.

Allerdings wären bei mehr als 4 Millionen Infizierten (bei einer angenommenen Sterblichkeit von nur einem Prozent) mehr als 40000 Menschen an Covid-19 gestorben. Immunität ließe sich natürlich auch durch eine Impfung erreichen. Allerdings ist unklar, wann (und ob) sie zur Verfügung stehen wird.

Mit einem niedrigerem 1<R<3 (SIR-Modelle, in Wahrheit muss R dazu deutlich kleiner als 3 sein), wird am Ende der Epidemie weniger als 2/3 der Bevölkerung infiziert worden sein, mehr dazu später, aber es bleibt bei R>=1 nur die Wahl zwischen einer sehr langen „Koexistenz von Mensch und Virus“ (Meyer-Hermann) bei ungefähr R=1 oder einer signifikanten Menge von Toten (bei R>1).

Es ist aktuell unklar, welches Ziel die Bundesregierung verfolgt, d.h. ob R<1 angestrebt wird (Eindämmung), oder R nahe 1 (und gleichzeitig auf eine Impfung oder ein Medikament gehofft wird), oder doch Immunität durch Durchseuchung (unter Inkaufnahme der Opfer) das Ziel sein soll.

Wenn die Durchseuchung der Bevölkerung (inklusive der Opfer) vermieden werden soll, gibt im Wesentlichen aktuell nur zwei neue Maßnahmen, von denen wir dann hoffen müssen, dass sie die Lockerungen überkompensieren: 1) Tragen von Masken. 2) Die Corona-Verfolgungs-App.

(18.04.2020: Inzwischen hat ein Regierungssprecher ein Ziel für den Wert von R formuliert)

Bemerkung: Die App ist deswegen so wichtig, weil sie ermöglicht, die Ansteckung durch noch symptomlose Infizierte zu reduzieren: Wenn ein Mensch erkrankt (hat Symptome und begibt sich in Quarantäne), muss die App anonym seine Kontakte benachrichtigen. Diese müssen sich sofort ebenfalls in Quarantäne begeben, bevor sie selber Symptome entwickeln. Nur auf diese Weise kann die Ansteckung durch symptomlose Infizierte reduziert werden – was hoffentlich zu einem R<1 führt, wenn alles schnell genug geht. Hier eine viel erwähnte Arbeit zu diesem Thema.

Die Epidemie hat kein Gedächtnis

Die strengen Eindämmungsmaßnahmen begannen am 13.03.2020 mit den Schließungen der Kindergärten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Deutschland (nur!) etwa 3000 Infizierte und fast so viele aktive Infektionen (d.h. erst wenige Geheilte oder Verstorbene).

Ein Irrtum, dem aktuell viele Menschen erliegen ist, dass die erzielten „Erfolge“ (von der Bundeskanzlerin „zerbrechlich“ genannt) doch in dem Sinne gewürdigt werden müssten, dass eine Rückkehr ins „normale wirtschaftliche und öffentliche Leben“ nach so vielen Wochen der Anstrengung möglich sein müsse.

Die Wahrheit ist: Die Epidemie hat kein Gedächtnis, sie wird sich an die Anstrengungen nicht erinnern. Sie startet jeden Tag neu, von den aktuellen Zahlen, die höher sind (!) als vor den Maßnahmen: wir starten aktuell von 50000 aktiven Infektionen (statt 3000 am 13.03.2020). Das bedeutet, es wurde nichts gewonnen, nur Zeit – ohne die Maßnahmen wären die 50000 Infektionen etwa am Tag 24 (d.h. am 25.3.2020) überschritten worden (siehe Abbildung).

Gewonnen wurden also 3 Wochen; das war wichtige Zeit, um die Anzahl der Intensivbetten (ca. 30000 in ganz Deutschland) zu verdoppeln (auch wenn das nicht vollständig gelungen sein mag), Schutzmaterialien einzukaufen (auch wenn das Versorgungsproblem nicht dauerhaft gelöst ist), Operationen zu verschieben (auch wenn dadurch auch Krebspatienten auf ihre OP warten müssen).

Man kann es auch so sagen: Mit dem ereichten R<1 ist demonstriert worden, dass das Virus auch mit „europäischen Mitteln“ eindämmbar ist –  sofern man die strengen Maßnahmen konsequent weiterführen würde. Durchaus eine wichtige Erkenntnis.

Kehren wir jetzt zurück zum Verhalten von vor dem 13.03.2020, so kehren wir zurück zu R nahe 3 und bekommen dann das gleiche exponentielle Wachstum wie Anfang März (siehe Abbildung). Nur mit 3 Wochen Verspätung und mit einem Startwert von 50000 Infizierten statt 3000. Wir steigen also direkt höher ein.

Das Gedächtnis haben allerdings wir, d.h. wir können uns besser an die (nun eingeübten) Empfehlungen und Regeln halten, die vor dem Kontaktverbot auf diesem Kontinent kaum jemand ernst genommen hat.

Wir müssen hoffen, dass das zusammen mit den (selbstgenähten) Masken und der (noch nicht entwickelten) App für R<1 reicht.