Text vom 15.2.2021: Während in deutschen Medien über Lockerungen diskutiert wird, breitet sich Corona Variante B.1.1.7 weitgehend unbemerkt aus. Bisher wusste man nicht genau, wie schnell.
Einschub-Anfang (21.02.2021): Das Wesentliche Problem an B.1.1.7 ist, dass diese Coronavariante sich in Großbritannien sich im Herbst 2020 trotz eines „Lockdown-light“ (der für die Eindämmung der alten Variante genügt hatte) exponentiell ausgebreitet hat, siehe meinen Beitrag vom Dezember 2020. Es konnte wenig Zweifel daran geben, dass B.1.1.7 das auch in Deutschland zustande bringen würde, wenn es erst einmal ins Land gelangt, und wenn R dann nicht über einen längeren Zeitraum deutlich unter 0,8 gedrückt wird (was es zu keinem Zeitpunkt seit Ende 2020 wurde). Dabei ist das R immer ein Ergebnis der (a) staatlichen Maßnahmen, (b) deren Einhaltungsdiszipin, und (c) der freiwilligen Eindämmungs-Disziplin (also ohne staatliche Zwänge). Einschub Ende
Seit 10.02.2021 gibt es den RKI-Bericht (Bericht zu Virusvarianten von SARS-CoV-2 in Deutschland, insbesondere zur Variant of Concern (VOC) B.1.1.7), anhand dessen man die Verbreitung von B.1.1.7 schätzen kann.
Die wesentliche Tabelle ist Tabelle 1. Hier die Daten auszugsweise:
Kalenderwoche 2021 |
Tests auf Mutanten (VOC) | Hinweise auf Mitanten (VOC) | Abteil in Prozent | Hinweise auf B.1.17 | Hinweise auf B.1.351 |
2 (11.01.2021) | 49 | 1 | 2 | 1 | 0 |
3 (22.01.2021) | 3291 | 121 | 4 | 121 | 0 |
4 (01.02.2021) | 30348 | 1546 | 5 | 1452 | 93 |
5 (08.02.2021) | 23530 | 2832 | 12 | 2642 | 190 |
Mitgeliefert wird von RKI eine Karte (Abbildung 1), aus der hervorgeht, dass das Auftreten der Mutanten auf ganz Deutschland verteilt ist.
Nun sind die Zahlen für KW1 und KW2 zu klein, um aussagekräftig zu sein.
Nun kann man zudem auch sagen: Selbst, wenn es real ist, was man in Spalte 4 sieht, warum sollte es beunruhigen, dass B.1.1.7 (im aktuellen Lockdown mit weitgehend geschlossenen Schulen!) seinen prozentualen Anteil an den Infektionen so erfolgreich ausbaut?
Antwort: Es sollte uns beunruhigen, weil man sieht, dass die aktuelle Corona-Disziplin in Deutschland (wir sind im Lockdown mit weitgehend geschlossenen Schulen!) genügt nicht reicht, um die Variante B.1.1.7 einzudämmen.
Dazu muss man sich erinnern, wie die Katastrophe in Großbritannien im Herbst 2020 angefangen hat. Die Variant of Concern B.1.1.7 ist gerade dadurch aufgefallen, dass sie im Lockdown-light in GB exponentiell wuchs (siehe meinem Beitrag vom Dezember 2020).
Hier die Zahlen eines Großlabors (Milton Keynes Lighthouse lab); das ist Figure 2 im Bericht des Public Health England.
Prozentsatz der Mutanten mit „S gene target failure“ (insbes. B.1.1.7) | |
KW 42 (12.10.2020) | 5% |
KW 43 (19.10.2020) | 15% |
KW 44 (26.10.2020) | 32% |
KW 45 (02.11.2020) | 54% |
KW 46 (09.11.2020) | 78% |
KW 47 (16.11.2020) | 86% |
KW 48 (23.11.2020) | 94% |
KW 49 (30.11.2020) | 96% |
Die schnelle Ausbreitung von B.1.1.7 in Großbritannien schlug sich ab Anfang Dezember 2020 in den landesweiten Infektionszahlen nieder und so musste Großbritannien dann am 14.12.2020 in die härteste Lockdownstufe gehen (siehe auch hier), nämlich inklusive Stay-at-Home-Regeln nach Tier 3 mit geschlossenen Geschäften, geschlossenen Schulen, etc. Hier die Liste der Grausamkeiten nach Tier 3.
Auszug gefällig? „You cannot leave your home to meet with anyone except where:• you live with them • you are in a support bubble with them.“
Glücklicherweise sind immerhin die Tier-3-Maßnahmen ausreichend, um B.1.1.7 einzudämmen, wie man an den seit 10.01.2021 sinkenden Zahlen in GB sieht.
Allerdings sind die Infektionszahlen in GB jetzt (Mitte Februar) noch nicht wieder auf das Niveau von Anfang Oktober 2020 gesunken. Und diese Maßnahmen dürften sehr teuer sein.
Nun sind die Zahlen des RKI zu unsicher, um damit ein numerisches Modell zu kalibrieren. Andererseits ist allerdings ziemlich sicher, dass die Infektionsdisziplin (oder Hygienedisziplin?) im aktuellen Lockdown (mit weitgehend geschlossenen Schulen und Kindergärten mit 30% Notbetreuung!) nicht ausreicht, um B.1.1.7 aufzuhalten, siehe den Beitrag vom Dezember 2020. Der R-Wert pendelt in Deutschland um 0,9, was selbst bei optimistischen Schätzungen zur Infektiösität von B.1.1.7 nicht ausreicht, um B.1.1.7 vom exponentiellen Wachstum abzuhalten. In dem Sinne sind die Zahlen des RKI keine Überraschung.
Man kann daher mal einfach überschlagen, dass Deutschland in der KW 5 (08.02.2021) etwa da angekommen ist, wo Großbritannien in der KW 43 (19.10.2020) war.
Großbritannien hatte ab der KW43 mit einem Anteil von 15% B.1.1.7 an den Coronainfektionen noch etwa 2 Monate bis zum harten Tier-3-Lockdown. Es mag sein, dass der aktuelle deutsche Lockdown etwas effektiver ist, als der britische vom Herbst 2020. Allerdings reicht die Disziplin offensichtlich (und leider) nicht aus, denn der R-Wert ist zu hoch. Er müsste über einen längeren Zeitraum bei R=0,7 liegen, was nicht mal im ersten Lockdown (in der ersten Welle) in Deutschland erreicht wurde. Allerdings waren damals keine FFP2-Masken breit verfügbar und das Maske-Tragen war noch verpönt.
Da aktuell aber sogar mit Lockerungen zu rechnen ist (Schulen, Kindergärten), kann man vorhersagen, dass etwa 6 bis 8 Wochen bis zu einem harten Lockdown in Deutschland bleiben. Man kann nur hoffen, dass ein Lockdown angelehnt an die britischen Tier-3-Regeln verhindert werden kann. Dazu müssten aber andere Mittel gefunden werden als das grobe Mittel der Ausgangssperren.
Alternativen? Man muss nun, unter den aktuellen Umständen, alles ausschöpfen, um dem R-Wert zu reduzieren. Was könnten Maßnahmen sein?
Zunächst:
- Die Impfungen können B.1.1.7 nicht aufhalten, weil sie zu langsam passieren.
- Aktuelle Grenzschließungen (Tschechische Republik, Tirol) können nur noch den verstärkten Eintrag von B.1.1.7 verhindern. Die Mutante ist längst in Deutschland. Hätte man den Eintrag von B.1.1.7 nach Deutschland verhindert wollen, hätte man deutlich früher handeln müssen.
Aber:
- Die Kontaktverfolgung der Gesundheitsämter passiert immer noch auf Basis eines fehlerhaften Papers in Nature Medicine. Das könnte verbessert werden.
- Die Corona-App ist nicht effektiv genug: In den letzten 7 Tagen gab es durchschnittlich 7222 gemeldete Coronainfektionen, aber nur durchschnittlich 972 warnende Personen. D.h. nur jeder siebte Infizierte warnt andere über die App. Damit ist die App ein stumpfes Schwert. Wie kann das verbessert werden? Übrigens basieren auch die Warnungen der App wahrscheinlich auf dem fehlerhaften Nature-Medicine-Paper.
- Corona-Schnelltests für den Eigengebrauch stehen immer noch nicht zur Verfügung, dabei könnten sie – sofern in Massen günstig produziert – die Eigenverantwortung erheblich stärken. Es ist absurd, dass in Deutschland dieses Mittel nicht zur Verfügung steht.
- In Großbritannien gibt es das Konzept der „Bubbles“. Angelehnt daran könnte man private Kontakte, Kontakte in Schulen, Kindergärten und am Arbeitsplatz vollständig in „Blasen“ organisieren, ohne Kontakt zwischen den Blasen. Sicher ist das schwierig umzusetzen.
- Luftfilter in Schulen und Kindergärten werden Infektionen nicht vollständig verhindern können, aber die Kosten sind gering gegenüber den Lockdown-Kosten. In Kindergärten werden keine Masken getragen, weshalb Erzieherinnen (und Erzieher) für März bis November 2020 nach einer Analyse der BKKs das höchste Infektionsrisiko aller Berufsgruppen hatten.
- Nur für 20 % der Infektionen ist dem RKI bekannt, wo sie passiert sind. Es würde sich lohnen, für eine Modellregion mit massivem Aufwand wirklich alle Kontakte aufzuklären. Das würde bedeuten, über die Kontaktverfolgungsregeln des RKI hinauszugehen, also auch Kontakte <15 Minuten, auch mit OP-Maske, auch über 1,50m (insbesondere in Innenräumen) aufzuklären.
- Andere Ideen, um R zu reduzieren?
Oder doch über No-Covid diskutieren?
Nachtrag (21.02.2021): Die dritte Welle deutet sich an. Aktuell liegt der R-Wert laut RKI bei 0,9 oder bei 1,0 (die Entwicklung ist immer noch dominiert von der klassischen Variante). Bei optimistischer Schätzung haben wir also einen R-Wert in der Nähe von 1,2 für B.1.1.7 zu erwarten – trotz aktuellem Lockdown. Der aktuelle Lockdown wird allerdings sowieso gerade durch Lockerungen aufgeweicht wird, leider ohne dass Ersatzmaßnahmen hinzukommen, etwa eine ausgeweitete Teststrategie. Durch die Öffnung der Schulen wird der R-Wert für B.1.1.7 wohl eher höher als R=1,2 liegen. Es triff sich aber gut, das wir Szenarion R=1,2 (täglich grüßt das Murmeltier) schon im August 2020 besprochen haben: Ohne zusätzliche Eindämmungsmaßnahmen (allerdings ist R=1,2 für B.1.1.7 schon unter Lockdownbedingungen) dauert es mehr als ein Jahr bis zum Maximum der Welle. Insgesamt würden sich 25 Millionen Menschen anstecken. Ein Prozent Sterblichkeit angenommen, würde das 250000 Tote bedeuten.
In der Realität würde (bei einer Welle dieser Dauer) die Impfung die Welle dämpfen, sobald ein substantieller Teil der Bevölkerung geimpft ist. Leider laufen die Impfungen (durch eine verfehlte Impfstoffbeschaffung der EU) sehr langsam.
Bemerkung (01.03.2021): Übrigens sind die aktuellen Lockerungen trotz der kommenden dritten Welle der Beweis, dass die Politik nicht von der Virologie und Epidemiologie bestimmt wird. Erst recht nicht von einzelnen Virologen.
Bemerkung 2 (01.03.2021): Warum läuft es aktuell in Deutschland nicht rund? Ein (nicht nur deutsches) Problem dürfte sein, dass Lobbygruppen im öffentlichen Diskurs einen ebenso hohen Stellenwert haben, wie Stellungnahmen aus der Wissenschaft. Beispiel? Schnelltests: In Südkorea seit langem im Einsatz – in Deutschland blieb das Testen bis jetzt (nach 70000 Toten) Privileg für medizinisches Fachpersonal. Anderes Beispiel: Berufsverbände der Kinderärzte fordern seit Monaten regelmäßig die Öffnung der Schulen:
„Die Devise muss lauten: Kitas und Schulen auf – und zwar jetzt“, sagte der Chef des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Dr. Thomas Fischbach, der „Ärzte Zeitung“.
„Die Öffnung der Schulen habe unter strikter Berücksichtigung der neuen S3-Leitlinie zu „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen“ zu erfolgen, so Fischbach. „Mehr an Vorsichtsmaßnahmen geht nicht.“ (Ärztezeitung)
Bei einer solchen Superlativ („Mehr an Vorsichtsmaßnahmen geht nicht.“) könnte man schon stutzig werden. Auch hier machen sich die Vertreter der Kinderärzte Sorgen um die Bildungschancen der Kinder (!):
„Auch nach dem Auftreten von Virusmutationen bleibt es dabei, dass Kinder und Jugendliche keine Treiber der Pandemie sind“, sagte der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Thomas Fischbach, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Deshalb können und müssen alle Schulen und die Kitas umgehend wieder geöffnet werden. Sie spielen im Infektionsgeschehen keine nennenswerte Rolle.“ (Link zu NTV)
Man fragt sich: Haben die Kinderärztevertreter neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die nun so eindeutige Aussagen zulassen? Leider nein. Die geschlossenen Schulen und Kindergärten bescheren den Praxen allerdings Umsatzausfälle von 20 bis 40 Prozent, etwa, weil sich die Kinder im Lockdown nicht mehr mit Grippe und Kinderkrankheiten anstecken:
„Vielen Praxen steht das Wasser bis zum Hals“, sagte BVKJ-Präsident Thomas Fischbach der NOZ. Als Grund für die akuten Einnahmeausfälle wird ein coronabedingter Rückgang der Behandlungen „zwischen 20 und 40 Prozent“ genannt. (Link)
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Vorsorgeterminen und Distanzunterricht?
Noch ein Beispiel für die Dominanz sachfremder Erwägungen? Das Land NRW fördert seit Ende 2020 Luftfilteranlagen für Schulen. Die Stadt Köln (und auch andere Städte in NRW) verbietet jedoch deren Einsatz, sogar, wenn zertifizierte Geräte den Schulen geschenkt werden. Grund: Der Nutzen sei nicht belegt (obwohl er durch die Universität der Bundeswehr belegt wurde). Mit demselben Argument wurden in Deutschland (sogar vom RKI) noch im Frühjahr 2020 Alltagsmasken (und sogar OP-Masken) abgelehnt, während ganz Asien schon lange von dem Nutzen überzeugt war – und es dort Belege gab.
Nachtrag (12.03.2021): Nun gibt es aktualisierte Zahlen vom RKI, schön im heutigen Situationsbericht zusammengefasst:
Die Extrapolation der Daten liefert (bei unveränderten Maßnahmen) eine Inzidenz von 200 in der Kalenderwoche 13, also in 3 Wochen. Aufgrund der Lockerungen (Öffnung von Geschäften und Schulen ohne Kompensation durch Schnelltesteinsatz) ist eher früher damit zu rechnen. Konkret bedeutet das, dass innerhalb der nächsten drei Wochen nach und nach mehr Kreise (nach Überschreitung der Notbremse bei 100) in den strengen Lockdown zurückgehen werden. Solange, bis wieder fast ganz Deutschland betroffen ist. – Die Notbremse bei einer Melde-Inzidenz von 100 wurde von der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang März zusammen mit den aktuellen Lockerungen beschlossen. Nur Brandenburg wird verbindlich erst bei 200 reagieren.
20.03.2021: Inzwischen hat die Variante B.1.1.7 einen Anteil von 75 Prozent an den Coronainfektionen in Deutschland. Die gemeldeten Infektionen steigen daher (heute 15000 gegenüber 12000 vor einer Woche), obwohl weitgehend Lockdown-Bedingungen herrschen (die Schulen wurden gerade erst geöffnet, die Infektionszahlen spiegeln aber die Lage von vor 2 Wochen wieder). Der R-Wert für die Variante B.1.1.7 beträgt unter den Bedingungen vor 2 Wochen ungefähr R=1.3. Das bedeutet: Es geht ungefähr so weiter wie hier beschrieben für den Fall R=1.2. Weitere Lockerungen und fehlende Hygienedisziplin werden den R-Wert aber wahrscheinlich weiter steigen lassen. Längerfristig sind die anderen Immun-Escape-Varianten (Brasilien, Südafrika) eine Bedrohung, weil sie die Impfungen deutlich weniger wirksam machen. Es wäre wichtig, diese Corona-Varianten jetzt außer Landes zu halten. Eigentlich ist diesem Statement von Lauterbach wenig hinzuzufügen.