15. Februar 2021 – Oliver Rheinbach

In 6 bis 8 Wochen kommt der nächste harte Lockdown – um die Corona-Mutante B.1.1.7 einzudämmen

Text vom 15.2.2021: Während in deutschen Medien über Lockerungen diskutiert wird, breitet sich Corona Variante B.1.1.7 weitgehend unbemerkt aus. Bisher wusste man nicht genau, wie schnell.

Einschub-Anfang (21.02.2021): Das Wesentliche Problem an B.1.1.7 ist, dass diese Coronavariante sich in Großbritannien sich im Herbst 2020 trotz eines „Lockdown-light“ (der für die Eindämmung der alten Variante genügt hatte) exponentiell ausgebreitet hat, siehe meinen Beitrag vom Dezember 2020. Es konnte wenig Zweifel daran geben, dass B.1.1.7 das auch in Deutschland zustande bringen würde, wenn es erst einmal ins Land gelangt, und wenn R dann nicht über einen längeren Zeitraum deutlich unter 0,8 gedrückt wird (was es zu keinem Zeitpunkt seit Ende 2020 wurde). Dabei ist das R immer ein Ergebnis der  (a) staatlichen Maßnahmen, (b) deren Einhaltungsdiszipin, und (c) der freiwilligen Eindämmungs-Disziplin (also ohne staatliche Zwänge).  Einschub Ende

Seit 10.02.2021 gibt es den RKI-Bericht (Bericht zu Virusvarianten von SARS-CoV-2 in Deutschland, insbesondere zur Variant of Concern (VOC) B.1.1.7), anhand dessen man die Verbreitung von B.1.1.7 schätzen kann.

Die wesentliche Tabelle ist Tabelle 1. Hier die Daten auszugsweise:

Kalenderwoche
2021
Tests auf Mutanten (VOC) Hinweise auf Mitanten (VOC) Abteil in Prozent Hinweise auf B.1.17 Hinweise auf B.1.351
2 (11.01.2021) 49 1 2 1 0
3 (22.01.2021) 3291 121 4 121 0
4 (01.02.2021) 30348 1546 5 1452 93
5 (08.02.2021) 23530 2832 12 2642 190

Mitgeliefert wird von RKI eine Karte (Abbildung 1), aus der hervorgeht, dass das Auftreten der Mutanten auf ganz Deutschland verteilt ist.

Nun sind die Zahlen für KW1 und KW2 zu klein, um aussagekräftig zu sein.

Nun kann man zudem auch sagen: Selbst, wenn es real ist, was man in Spalte 4 sieht, warum sollte es beunruhigen, dass B.1.1.7 (im aktuellen Lockdown mit weitgehend geschlossenen Schulen!) seinen prozentualen Anteil an den Infektionen so erfolgreich ausbaut?

Antwort: Es sollte uns beunruhigen, weil man sieht, dass die aktuelle Corona-Disziplin in Deutschland (wir sind im Lockdown mit weitgehend geschlossenen Schulen!) genügt nicht reicht, um die Variante B.1.1.7 einzudämmen.

Dazu muss man sich erinnern, wie die Katastrophe in Großbritannien im Herbst 2020 angefangen hat. Die Variant of Concern B.1.1.7 ist gerade dadurch aufgefallen, dass sie im Lockdown-light in GB exponentiell wuchs (siehe meinem Beitrag vom Dezember 2020).

Hier die Zahlen eines Großlabors (Milton Keynes Lighthouse lab); das ist Figure 2 im Bericht des Public Health England.

Prozentsatz der Mutanten mit „S gene target failure“ (insbes. B.1.1.7)
KW 42 (12.10.2020) 5%
KW 43 (19.10.2020) 15%
KW 44 (26.10.2020) 32%
KW 45 (02.11.2020) 54%
KW 46 (09.11.2020) 78%
KW 47 (16.11.2020) 86%
KW 48 (23.11.2020) 94%
KW 49 (30.11.2020) 96%

Die schnelle Ausbreitung von B.1.1.7 in Großbritannien schlug sich ab Anfang Dezember 2020 in den landesweiten Infektionszahlen nieder und so musste Großbritannien dann am 14.12.2020 in die härteste Lockdownstufe gehen (siehe auch hier), nämlich inklusive Stay-at-Home-Regeln nach Tier 3 mit geschlossenen Geschäften, geschlossenen Schulen, etc. Hier die Liste der Grausamkeiten nach Tier 3.

Auszug gefällig? „You cannot leave your home to meet with anyone except where:• you live with them • you are in a support bubble with them.“

Glücklicherweise sind immerhin die Tier-3-Maßnahmen ausreichend, um B.1.1.7 einzudämmen, wie man an den seit 10.01.2021 sinkenden Zahlen in GB sieht.

Allerdings sind die Infektionszahlen in GB jetzt (Mitte Februar) noch nicht wieder auf das Niveau von Anfang Oktober 2020 gesunken. Und diese Maßnahmen dürften sehr teuer sein.

Nun sind die Zahlen des RKI zu unsicher, um damit ein numerisches Modell zu kalibrieren. Andererseits ist allerdings ziemlich sicher, dass die  Infektionsdisziplin (oder Hygienedisziplin?) im aktuellen Lockdown (mit weitgehend geschlossenen Schulen und Kindergärten mit 30% Notbetreuung!) nicht ausreicht, um B.1.1.7 aufzuhalten, siehe den Beitrag vom Dezember 2020. Der R-Wert pendelt in Deutschland um 0,9, was selbst bei optimistischen Schätzungen zur Infektiösität von B.1.1.7 nicht ausreicht, um B.1.1.7 vom exponentiellen Wachstum abzuhalten. In dem Sinne sind die Zahlen des RKI keine Überraschung.

Man kann daher mal einfach überschlagen, dass Deutschland in der KW 5 (08.02.2021) etwa da angekommen ist, wo Großbritannien in der KW 43 (19.10.2020) war.

Großbritannien hatte ab der KW43 mit einem Anteil von 15% B.1.1.7 an den Coronainfektionen noch etwa 2 Monate bis zum harten Tier-3-Lockdown. Es mag sein, dass der aktuelle deutsche Lockdown etwas effektiver ist, als der britische vom Herbst 2020. Allerdings reicht die Disziplin offensichtlich (und leider) nicht aus, denn der R-Wert ist zu hoch. Er müsste über einen längeren Zeitraum bei R=0,7 liegen, was nicht mal im ersten Lockdown (in der ersten Welle) in Deutschland erreicht wurde. Allerdings waren damals keine FFP2-Masken breit verfügbar und das Maske-Tragen war noch verpönt.

Da aktuell aber sogar mit Lockerungen zu rechnen ist (Schulen, Kindergärten), kann man vorhersagen, dass etwa 6 bis 8 Wochen bis zu einem harten Lockdown in Deutschland bleiben. Man kann nur hoffen, dass ein Lockdown angelehnt an die britischen Tier-3-Regeln verhindert werden kann. Dazu müssten aber andere Mittel gefunden werden als das grobe Mittel der Ausgangssperren.

Alternativen? Man muss nun, unter den aktuellen Umständen, alles ausschöpfen, um dem R-Wert zu reduzieren. Was könnten Maßnahmen sein?

Zunächst:

  • Die Impfungen können B.1.1.7 nicht aufhalten, weil sie zu langsam passieren.
  • Aktuelle Grenzschließungen (Tschechische Republik, Tirol) können nur noch den verstärkten Eintrag von B.1.1.7 verhindern. Die Mutante ist längst in Deutschland. Hätte man den Eintrag von B.1.1.7 nach Deutschland verhindert wollen, hätte man deutlich früher handeln müssen.

Aber:

  • Die Kontaktverfolgung der Gesundheitsämter passiert immer noch auf Basis eines fehlerhaften Papers in Nature Medicine. Das könnte verbessert werden.
  • Die Corona-App ist nicht effektiv genug: In den letzten 7 Tagen gab es durchschnittlich 7222 gemeldete Coronainfektionen, aber nur durchschnittlich 972 warnende Personen. D.h. nur jeder siebte Infizierte warnt andere über die App. Damit ist die App ein stumpfes Schwert. Wie kann das verbessert werden? Übrigens basieren auch die Warnungen der App wahrscheinlich auf dem fehlerhaften Nature-Medicine-Paper.
  • Corona-Schnelltests für den Eigengebrauch stehen immer noch nicht zur Verfügung, dabei könnten sie – sofern in Massen günstig produziert – die Eigenverantwortung erheblich stärken. Es ist absurd, dass in Deutschland dieses Mittel nicht zur Verfügung steht.
  • In Großbritannien gibt es das Konzept der „Bubbles“. Angelehnt daran könnte man private Kontakte, Kontakte in Schulen, Kindergärten und am Arbeitsplatz vollständig in „Blasen“ organisieren, ohne Kontakt zwischen den Blasen. Sicher ist das schwierig umzusetzen.
  • Luftfilter in Schulen und Kindergärten werden Infektionen nicht vollständig verhindern können, aber die Kosten sind gering gegenüber den Lockdown-Kosten. In Kindergärten werden keine Masken getragen, weshalb Erzieherinnen (und Erzieher) für März bis November 2020 nach einer Analyse der BKKs das höchste Infektionsrisiko aller Berufsgruppen hatten.
  • Nur für 20 % der Infektionen ist dem RKI bekannt, wo sie passiert sind. Es würde sich lohnen, für eine Modellregion mit massivem Aufwand wirklich alle Kontakte aufzuklären. Das würde bedeuten, über die Kontaktverfolgungsregeln des RKI hinauszugehen, also auch Kontakte <15 Minuten, auch mit OP-Maske, auch über 1,50m (insbesondere in Innenräumen) aufzuklären.
  • Andere Ideen, um R zu reduzieren?

Oder doch über No-Covid diskutieren?

Nachtrag (21.02.2021): Die dritte Welle deutet sich an. Aktuell liegt der R-Wert laut RKI bei 0,9 oder  bei 1,0 (die Entwicklung ist immer noch dominiert von der klassischen Variante).  Bei optimistischer Schätzung haben wir also einen R-Wert in der Nähe von 1,2 für B.1.1.7 zu erwarten – trotz aktuellem Lockdown. Der aktuelle Lockdown wird allerdings sowieso gerade durch Lockerungen aufgeweicht wird, leider ohne dass Ersatzmaßnahmen hinzukommen, etwa eine ausgeweitete Teststrategie. Durch die Öffnung der Schulen wird der R-Wert für B.1.1.7 wohl eher höher als R=1,2 liegen. Es triff sich aber gut, das wir Szenarion R=1,2 (täglich grüßt das Murmeltier) schon im August 2020 besprochen haben: Ohne zusätzliche Eindämmungsmaßnahmen (allerdings ist R=1,2 für B.1.1.7 schon unter Lockdownbedingungen) dauert es mehr als ein Jahr bis zum Maximum der Welle. Insgesamt würden sich 25 Millionen Menschen anstecken. Ein Prozent Sterblichkeit angenommen, würde das 250000 Tote bedeuten.

In der Realität würde (bei einer Welle dieser Dauer) die Impfung die Welle dämpfen, sobald ein substantieller Teil der Bevölkerung geimpft ist. Leider laufen die Impfungen (durch eine verfehlte Impfstoffbeschaffung der EU) sehr langsam.

Bemerkung (01.03.2021): Übrigens sind die aktuellen Lockerungen trotz der kommenden dritten Welle der Beweis, dass die Politik nicht von der Virologie und Epidemiologie bestimmt wird. Erst recht nicht von einzelnen Virologen.

Bemerkung 2 (01.03.2021): Warum läuft es aktuell in Deutschland nicht rund? Ein (nicht nur deutsches) Problem dürfte sein, dass Lobbygruppen im öffentlichen Diskurs einen ebenso hohen Stellenwert haben, wie Stellungnahmen aus der Wissenschaft. Beispiel? Schnelltests: In Südkorea seit langem im Einsatz – in Deutschland blieb das Testen bis jetzt (nach 70000 Toten) Privileg für medizinisches Fachpersonal. Anderes Beispiel: Berufsverbände der Kinderärzte fordern seit Monaten regelmäßig die Öffnung der Schulen:

„Die Devise muss lauten: Kitas und Schulen auf – und zwar jetzt“, sagte der Chef des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Dr. Thomas Fischbach, der „Ärzte Zeitung“.

„Die Öffnung der Schulen habe unter strikter Berücksichtigung der neuen S3-Leitlinie zu „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen“ zu erfolgen, so Fischbach. „Mehr an Vorsichtsmaßnahmen geht nicht.“ (Ärztezeitung)

Bei einer solchen Superlativ („Mehr an Vorsichtsmaßnahmen geht nicht.“) könnte man schon stutzig werden. Auch hier machen sich die Vertreter der Kinderärzte Sorgen um die Bildungschancen der Kinder (!):

„Auch nach dem Auftreten von Virusmutationen bleibt es dabei, dass Kinder und Jugendliche keine Treiber der Pandemie sind“, sagte der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Thomas Fischbach, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Deshalb können und müssen alle Schulen und die Kitas umgehend wieder geöffnet werden. Sie spielen im Infektionsgeschehen keine nennenswerte Rolle.“ (Link zu NTV)

Man fragt sich: Haben die Kinderärztevertreter neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die nun so eindeutige Aussagen zulassen? Leider nein. Die geschlossenen Schulen und Kindergärten bescheren den Praxen allerdings Umsatzausfälle von 20 bis 40 Prozent, etwa, weil sich die Kinder im Lockdown nicht mehr mit Grippe und Kinderkrankheiten anstecken:

„Vielen Praxen steht das Wasser bis zum Hals“, sagte BVKJ-Präsident Thomas Fischbach der NOZ. Als Grund für die akuten Einnahmeausfälle wird ein coronabedingter Rückgang der Behandlungen „zwischen 20 und 40 Prozent“ genannt. (Link)

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Vorsorgeterminen und Distanzunterricht?

Noch ein Beispiel für die Dominanz sachfremder Erwägungen? Das Land NRW fördert seit Ende 2020 Luftfilteranlagen für Schulen. Die Stadt Köln (und auch andere Städte in NRW) verbietet jedoch deren Einsatz, sogar, wenn zertifizierte Geräte den Schulen geschenkt werden. Grund: Der Nutzen sei nicht belegt (obwohl er durch die Universität der Bundeswehr belegt wurde). Mit demselben Argument wurden in Deutschland (sogar vom RKI) noch im Frühjahr 2020 Alltagsmasken (und sogar OP-Masken) abgelehnt, während ganz Asien schon lange von dem Nutzen überzeugt war – und es dort Belege gab.

Nachtrag (12.03.2021): Nun gibt es aktualisierte Zahlen vom RKI, schön im heutigen Situationsbericht zusammengefasst:

Die Extrapolation der Daten liefert (bei unveränderten Maßnahmen) eine Inzidenz von 200 in der Kalenderwoche 13, also in 3 Wochen. Aufgrund der Lockerungen (Öffnung von Geschäften und Schulen ohne Kompensation durch Schnelltesteinsatz) ist eher früher damit zu rechnen. Konkret bedeutet das, dass innerhalb der nächsten drei Wochen nach und nach mehr Kreise (nach Überschreitung der Notbremse bei 100) in den strengen Lockdown zurückgehen werden. Solange, bis wieder fast ganz Deutschland betroffen ist. – Die Notbremse bei einer Melde-Inzidenz von 100 wurde von der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang März zusammen mit den aktuellen Lockerungen beschlossen. Nur Brandenburg wird verbindlich erst bei 200 reagieren.

20.03.2021: Inzwischen hat die Variante B.1.1.7 einen Anteil von 75 Prozent an den Coronainfektionen in Deutschland. Die gemeldeten Infektionen steigen daher (heute 15000 gegenüber 12000 vor einer Woche), obwohl weitgehend Lockdown-Bedingungen herrschen (die Schulen wurden gerade erst geöffnet, die Infektionszahlen spiegeln aber die Lage von vor 2 Wochen wieder). Der R-Wert für die Variante B.1.1.7 beträgt unter den Bedingungen vor 2 Wochen ungefähr R=1.3. Das bedeutet: Es geht ungefähr so weiter wie hier beschrieben für den Fall R=1.2. Weitere Lockerungen und fehlende Hygienedisziplin werden den R-Wert aber wahrscheinlich weiter steigen lassen. Längerfristig sind die anderen Immun-Escape-Varianten (Brasilien, Südafrika) eine Bedrohung, weil sie die Impfungen deutlich weniger wirksam machen. Es wäre wichtig, diese Corona-Varianten jetzt außer Landes zu halten. Eigentlich ist diesem Statement von Lauterbach wenig hinzuzufügen.

01. Februar 2021 – Oliver Rheinbach

Ein Jahr Corona: Ist ein Strategiewechsel notwendig? Und: Ein interessanter numerischer Fehler in einem wichtigen Corona-Paper.

Anders als andere Länder verfolgte die Bundesregierung nie die Strategie einer vollständigen Eindämmung von Corona. Ziel war nur, R nahe 1 zu halten, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Zwar sterben auch bei nicht-überlasteten Krankenhäusern etwa ein Drittel der Intensivpatienten, aber bei Überlastung noch viel mehr – und auch Menschen mit anderen Krankheiten als Corona sterben wegen schlechter Versorgung. Ansonsten war das Ziel in Deutschland, den Schaden für die Wirtschaft möglichst gering zu halten (allerdings sind auch so die Kosten der Maßnahmen astronomisch) und auf die Impfung zu warten.

Um das Ziel „R nahe 1“ zu erreichen, waren Bundesregierung und die Länder bereit, vergleichsweise harte Maßnahmen für den privaten Bereich zu erlassen (Kontaktbeschränkungen, zwei Haushalte-Regel, 15-Kilometerregel, Schulen und Kindergärten im Notbetrieb, Universitäten im Onlinebetrieb, sogar abendliche Ausgangssperren), wenn auch weniger hart als in anderen europäischen Ländern (die mit harten Ausgangssperren nicht mehr erreicht haben als Deutschland). Ebenso harte Maßnahmen trafen und treffen bestimmte Bereiche der Wirtschaft, wie Restaurants, Läden etc… Für andere Bereiche der Wirtschaft gelten dagegen vergleichsweise milde Regeln: bei Einhaltung von 1,5m Abstand können Arbeitnehmer im Großraumbüro sitzen, auch ohne Maske – obwohl Ansteckung über Aerosole möglich ist. Bis vor Kurzem waren Firmenkantinen (unter Abstandsauflagen) noch offen, während Restaurants geschlossen waren. Trägt ein Arbeitnehmer das Virus nach Hause, steckt er relativ sicher seine Familie an. Da dieser letzte Schritt sehr gut nachvollziehbar ist, taucht in der Statistik der private Bereich als prominenter Ansteckungsherd auf. Tatsächlich kann die Ansteckungsursache bei 80 Prozent der Fälle nicht gefunden werden.

Nun hat die EU beim Impfstoffeinkauf leider zuerst auf die Kosten geschaut, obwohl die Impfstoffkosten (von 5 bis 50 Euro je Dosis, d.h.  zwischen 800 Mio und 8 Mrd Euro für die gesamte Deutsche Bevölkerung) gering sind, gegenüber die Lockdownkosten (in der Größenordnung von 1 Billion für Deutschland alleine 2020; hier und andere Quellen). Die Impfstoffkosten sind gegenüber den Lockdownkosten auch vernachlässigbar, wenn man (sinnvollerweise) bei mehreren Herstellern für die gesamte Bevölkerung bestellt. Nun kann man sich nicht wirklich beschweren, wenn Hersteller zuerst die Länder beliefern, die früh bestellt haben und mehr bezahlen: nämlich 30 Euro pro Kopf, während die EU 4 Euro pro Kopf zahlt.

Zudem ist die aktuelle Strategie Deutschlands in der zweiten Welle nicht sonderlich erfolgreich. Im Weihnachten herum meldete Deutschland pro Tag mehr als 1000 Tote, die in deutschen Medien viel gescholtene USA meldeten 4000 Tote – bei etwa viermal größerer Bevölkerung.

Die sehr langsame Impfung in der EU hat noch ein weiteres Risiko: Wenn man diesem Corona-Virus Raum und Zeit gibt (d.h. wenn man ihm einen stetigen Fluss von Neuinfektionen über längere Zeit bietet), so gibt man ihm Raum zu mutieren und sich an seinen Wirt anzupassen. Das sieht man nun an den neuen Varianten die in Großbritannien, Südafrika und Brasilien entstanden sind.

Eine Eindämmung, auch während die Impfungen laufen, ist daher sehr wichtig.  Zudem ist es leider wahrscheinlich, dass auch Geimpfte sich infizieren können (ohne krank zu werden) und andere anstecken könnten (keine sterile Immunität).

Die neue südafrikanische Corona-Variante ist deswegen so wichtig, weil sie wahrscheinlich in einer durchseuchten Umgebung entstanden ist, um bereits immune Menschen noch einmal anzustecken (Immun-Escape). Damit das nicht auch bei einer Impfung passieren kann, muss man die Impfung schnell, d.h. innerhalb kurzer Zeit, durchführen.

Ansonsten züchtet man nur neue Immun-Escape-Varianten im eigenen Land und muss wieder eine neue Impfung entwickeln (immerhin geht das wohl mit den neuen mRNA-Impfstoffen schneller als früher).

In jedem Fall ist es nun Zeit, über einen Plan B nachzudenken. Welche Optionen haben wir noch? Manche sagen, dass der Zug für die Kompletteindämmung nach asiatischem Vorbild für Europa abgefahren ist.

Andererseits sind es dieselben Maßnahmen, die eine Inzidenz von 500 auf 50 bringen, die die Inzidenz auch auf 5 und darunter bringen können. Nachdem Exponentialgesetz dauert beides sogar gleich lang. Wenn wir R=0,7 annehmen (was auch etwa einer Halbierung der Zahlen alle 8 Tage entspricht – bei einer angenommen Generationenzeit von 4 Tagen), hat man in 24 Tagen (fast) einen Faktor 10 Reduktion erreicht. Das bedeutet, mal kommt in 24 Tagen von 500 auf 50 und in weiteren 24 Tagen von 50 auf 5. Bei einem R=0,9 braucht man dazu 84 Tage.

Was kann man noch tun?

  • Vielleicht doch diese oder diese (No-Covid) Strategie? Obwohl natürlich bereits einige Politiker (m) und einige Wissenschaftler (m) widersprechen. Es lohnt sich trotzdem, darüber nachzudenken. Die No-Covid-Strategie ist im Übrigen vor allem eine Kommunikationsstrategie, d.h. sie ist ein Vorschlag, wie man wieder zu mehr Disziplin bei der Eindämmung kommen kann – beides, Kommunikation und Disziplin, fehlt aktuell in Deutschland. Das ist für jeden sichtbar, der durch deutsche Städte geht.
  • Vielleicht muss das RKI seine Kontaktverfolgung verbessern und endlich auch die Kontakte 4 Tage vor Symptombeginn suchen, statt nur 2 Tage  (s.u. zum „interessanten numerischen Fehler“)?
  • Vielleicht muss man in einer Modellregion eine massive Kontaktverfolgung mit allen verfügbaren Mitteln machen, um endlich das Dunkelfeld der Infektionen zu beleuchten (80 Prozent der Ansteckungen sind aktuell aus unbekannten Quellen – zumindest sind sie dem RKI unbekannt).
  • Vielleicht brauchen wir eine schärfere Coronawarn-App? Vielleicht kann man die Coronawarn-App zumindest so ändern, dass Nutzer freiwillig mehr Daten spenden können (etwa Standort und Zeit)? Wer diese Daten spendet könnte auch detaillierter gewarnt werden.
  • Vielleicht sollten täglich auf allen Medien (und am Supermarkt) Werbe-Videos laufen, wie man eine Maske richtig trägt und wann eine FFP2-Maske dicht ist, damit sich die vielen Masken-unter-der-Nase-Träger wenigstens blöd dabei vorkommen.
  • Es sollten wohl endlich auch in Deutschland Schnelltests an jedermann verkauft werden. Die US-Regierung fördert ihre (Weiter-)Entwicklung wenigstens.  Und ja: Natürlich kann man die Tests fehlerhaft anwenden, aber das ist die eigene Verantwortung. Wenn der Staat seiner Schutzaufgabe nicht nachkommt, muss er wenigstens die Werkzeuge zulassen, mit denen Bürger sich selber schützen können (nein, das ist kein Spruch der NRA).
  • Luftfilter für Schulen waren den Kommunen bisher zu teuer. Wenn die britische Variante sich in Deutschland ausbreitet, wird es wahrscheinlich nicht mehr ohne gehen. Nachtrag 3.2.2020: Inzwischen kann wohl als sicher gelten, dass auch in Deutschland die Mutante B.1.1.7 den alten Corona-Virus-Typ verdrängen wird. In Köln wurden nun in 880 positiven Proben 80 mal die britische Variante B.1.1.7 gefunden.
  • Neue Filteranlagen für die Bahn werden dann wahrscheinlich auch nötig.
  • … mehr Ideen?

Nun zum interessanten Fehler im einem wichtigen Corona-Artikel:

Die aktuelle Kontaktverfolgungsstrategie des RKI basiert auf diesem Artikel in Nature Medicine, nach dem es ausreicht, Kontakte von Corona-Infizierten bis zu zwei Tage vor Symptombeginn zu verfolgen.

Auch jetzt noch (!) verfolgen die deutschen Gesundheitsämter die Kontakte einer infizierten Person nur bis zu 2 Tage vor Symptombeginn (ich vermute, auch die App nur diese Kontakte warnt, habe das aber nicht geprüft), obwohl 4 oder 5 Tage notwendig sind, wie man seit August 2020 weiss, weil Forscher der ETH die Rohdaten der Publikation nochmal analysiert haben. Sie schreiben:

„Our reanalysis suggests that tracing contacts of infected index cases as far back as 2 or 3 days before symptom onset in the index case might not be sufficient to find all secondary cases.“ (Quelle hier)

Und weiter:

„Thus the published profile overestimated the efficacy of contact tracing, whereas the corrected distribution tells us we need to look back at least 4 days to catch 90% of presymptomatic infections.“ (Hervorhebung nicht im Orginal).

Die Ursache für den Fehler ist numerisch interessant:

„the following condition is used in the return line of the likelihood function:

     return(-sum(lli[!is.infinite(lli)]))

This condition will erroneously drop any data-point that has a probability of zero (and hence a log-probability of −∞) under the current model parameters.“

Der Nature-Medicine-Artikel musste daraufhin korrigiert werden. Die Originalautoren sind in ihrer Korrektur (etwa absichtlich?) ziemlich kryptisch:

„The time frame in the first sentence of the tenth paragraph of the main body of the text (“2 to 3 days”) was incorrect. The correct time frame is “5 to 6 days.”“ (siehe hier)

Wenn man sich die Mühe macht, den 10 Absatz des Dokumentes zu suchen, so ist der korrigierte Satz:

„Our analysis suggests that viral shedding may begin 5 to 6 days before the appearance of the first symptoms.“

23. Dezember 2020 – Oliver Rheinbach

Was man über die neue SARS-CoV-2-Variante VUI-202012/01 (bzw. B.1.1.7) aus Großbritannien weiß…

Den aktuell kursierenden Notizen einer NERVTAG-Pressekonferenz und einem Dokument der Public Health England mit dem Titel „Investigation of novel SARS-COV-2 variant – Variant of Concern 202012/01“ ist zu entnehmen, dass es deutliche Hinweise darauf gibt, dass die neue in Großbritannien aufgetretene, am Spike-Protein mutierte Corona-Variante VUI-202012/01 (teilweise auch B.1.1.7 genannt) infektöser ist, als die „alte“ Variante.

Gut: Bislang scheinen die Daten nicht auf eine höhere Sterblichkeit hinzuweisen, weiterhin scheinen die Mutationen nicht so stark zu sein, dass man wieder neue Impfungen entwickeln müsste. Allerdings ist dies alles noch nicht sicher und wird untersucht werden müssen.  Nachtrag (8.2.2020): Inzwischen zeichnet sich ab, dass mindestens ein Impfstoff gegen eine Mutation aus Südafrika (die in einer Bevölkerung mit großer Durchseuchung entstanden ist, um der Immunantwort auszuweichen) weniger wirksam ist. Nachtrag (11.02.2021): Inzwischen scheint sich abzuzeichnen, dass B.1.1.7 nicht nur ansteckender sondern auch tödlicher ist, als die alte Variante.

Schlecht: Bedenklich ist, dass die Variante vor allem deswegen aufgefallen ist, weil sie sich in Kent im September/Oktober 2020 exponentiell verbreitet hat (R>1), obwohl Bedingungen eines Lockdown(-light) in GB herrschten; „light“, weil u.a. die Schulen offen blieben und es keine Maskenpflicht im Unterricht gab. Also übrigens ähnliche Bedingungen, wie in Deutschland im Lockdown-light im November 2020, allerdings hatte GB offenbar die Universitäten auch für Präsenzveranstaltungen offen gehalten, während in Deutschland die Universitäten praktisch vollständig im Online-Modus waren (und sind).

Auf den erhöhten R-Wert schließen die Forscher durch Vergleich der Ausbreitung der alten und der neuen Variante in England den Kalenderwochen 44 bis 48 des Jahres 2020 (siehe Figure 1 im PHS-Dokument). Je nach angenommenen Modell erhalten sie eine additive R-Wert-Erhöhung um etwa 0,5 bis etwa 0,6 mit relativ engen Konfidenzintervallen.

Das Bedenkliche ist, dass diese R-Wert-Erhöhung unter Lockdown-Bedingungen gilt, also für ein R nahe 1, wie das England im Herbst 2020 hatte (siehe hier – wer hätte gedacht, das ich jemals die SUN verlinken würde, aber man sieht, sogar die SUN beschäftigt sich mit R-Werten). Die PHV-Report schreibt explizit (VOC ist die „Variant of Concern“ also die neue Variante VUI-202012/01) :

As an example, under the fixed effect model, an area with an Rt of 0.8 without the new variant would have an Rt of 1.32 [95%CI:1.19-1.50] if only the VOC was present.“ (Investigation of novel SARS-COV-2 variant – Variant of Concern 202012/01, Public Health England)

Das könnte bedeuteten, dass selbst die Bedingungen des harten Lockdowns in Deutschland aus dem März/April 2020 nicht reichen könnten, um die exponentielle Ausbreitung von SARS-CoV-2 in der Variante VUI-202012/01 zu stoppen. Der R-Wert lag während des ersten Lockdowns in Deutschland nahe 0,7 oder darüber, wie man hier nochmal sehen kann (siehe unten für die genauen Zahlenwerte).

Dies könnte bedeuten, dass eine Eindämmung von VUI-202012/01 (sollte sie in Deutschland Fuß fassen) wirtschaftlich extrem teuer sein könnte. Vor allem könnten die aus aktuellem Stand notwendigen strengen Maßnahmen wahrscheinlich nicht lange durchgehalten werden. Das könnte auch bedeuten, dass die Strategie der Bundesregierung mit „R nahe 1“ (um die Wirtschaftssystem am Laufen zu halten) für VUI-202012/01 nicht mehr durchführbar ist und man sich nun doch erfolgreiche asiatische Corona-Eindämmungsstrategien anschauen muss. Wichtig ist vielleicht auch nochmal darauf hinzuweisen, dass der Ausstieg aus dem ersten Lockdown im Frühjahr nach Ansicht von vielen Wissenschaftlern zu früh erfolgt ist, weil die Zahlen noch nicht niedrig genug waren. Das wäre für die neue Variante noch relevanter.

Nun ist es extrem wichtig, Zeit zu gewinnen und herauszufinden auf welche Weise die neue Virusvariante ansteckender ist also die alte Variante – damit man es gezielter eindämmen kann.

Aktuell kann man nur spekulieren: Es könnte etwa sein, dass eine niedrigere Viruslast für eine Ansteckung genügt (gut möglich, denn das mutierte  Spike-Protein passt wahrscheinlich besser auf den ACE2-Rezeptor der menschlichen Zelle). Möglich wäre auch, dass Infizierte eine höhere Virenlast haben (darauf gibt es Hinweise im einem NERVTAG-Dokument), oder dass mehr Infizierte als bisher eine hohe Virenlast haben (vielleicht verbreitet sich diese Variante nicht mehr hauptsächlich durch Superspreader, oder es gibt mehr Superspreader). Auch die Phase in der Infizierte ansteckend sind, könnte länger sein, insbesondere könnten Infizierte könnten noch früher ansteckend sein (also noch länger vor Symptombeginn). Eher unwahrscheinlich erscheint, dass die neue Corona-Variante neue Übertragungswege erschlossen hat. Aber das ist alles unklar und muss nun schnell untersucht werden.

Unten die genauen Zahlenwerte für den R-Wert in Deutschland aus der ersten Welle vom 21.03.2020 bis 21.05.2020. Demnach hätte eine Erhöhung des R-Wertes um nur 0,3 (!) für jeden Tag im Frühjahr zu exponentiellem Wachstum geführt – statt zu einer erfolgreichen Eindämmung!

Nachtrag: Die Impfung wird (selbst wenn sie sehr effektiv ist) Herdenimmunität erst gegen Ende 2021 herstellen können. Bis dahin bleibt nur weiter Eindämmung durch Abstand, Masken (FFP2 oder CPA, wo viele Menschen zusammenkommen), Kontaktreduktion, Schnelltests (bitte endlich für den Hausgebrauch freigeben), Lüftung(sanlagen) – und, ach ja, Händewaschen.

Nachtrag (2.2.2021): Inzwischen wird die britische Variante meist B.1.1.7 genannt, sie ist in Deutschland bei Ausbrüchen in Kliniken nachgewiesen worden und auch in Kindergärten. Es ist relativ klar, dass sie ansteckender ist, als die ursprüngliche Variante.

Nachtrag (3.2.2021): In Köln wurden in 880 positiven Proben 80 mal die britische Variante B.1.1.7 gefunden. Es ist daher zu erwarten, dass nun auch in Deutschland der bisher bekannte Corona-Virustyp von der Mutante B.1.1.7 verdrängt werden wird, die sich deutlich schneller ausbreitet.

Hier der R-Wert aus Deutschland der ersten Welle, Daten vom 21.03.2020 bis 21.05.2020:

0.97
0.86
0.88
0.85
0.88
0.96
0.89
0.94
0.87
0.89
0.91
0.93
1.03
0.96
0.96
0.86
0.81
0.8
0.83
0.91
0.86
0.82
0.75
0.68
0.71
0.78
0.84
0.89
0.87
0.79
0.79
0.78
0.82
0.89
0.85
0.83
0.78
0.76
0.78
0.81
0.89
0.86
0.85
0.85
0.83
0.9
0.95
0.97
0.92
0.85
0.79
0.79
0.82
0.9
0.95
0.97
0.97
0.91
0.96
0.86
0.89
0.92

27. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Wann werden die Intensivbetten in Deutschland wegen Covid-19 knapp werden?

Die Sueddeutsche Zeitung liefert auf Sueddeutsche.de nicht nur aktuelle Graphiken zur Corona in Deutschland, sondern auch die Rohdaten.

Wir werfen heute (ohne jegliche Simulation) einen Blick auf Zahl der Covid-19-Kranken auf Intensivstationen. Diese Daten sind (anders als die Zahl der Neuinfektionen, wo es eine hohe Dunkelziffer geben könnte) ziemlich sicher.

Tag 1 ist der 26.4.2020, ab da gibt es erst Daten im DIVI-Register. Hier sind die Daten von Sueddeutsche.de allerdings mit einer logarithmisch skalierten y-Achse.

Man sieht, dass die Daten zwischen Tag 150 und Tag 170 ziemlich gut auf einer Geraden liegen, was auf exponentielles Wachstum hinweist. Die letzten 6 Tage liegen scheinen auf einer noch etwas steileren Gerade zu liegen.

Passen wir also testweise (mit der Methode der kleinsten Quadrate) eine Gerade an die Tage 150 bis 170 an und eine weitere an die Tage 171 bis 176.

Wir können die angepassten Geraden in die Zukunft fortführen, was die magentafarbene gestrichelte Linie und rote gestrichelte Linie ergibt.

Die horizontale, grüne, gepunktete Linie liegt bei 10000 Betten, was in etwa den aktuell freien Intensivbetten in ganz Deutschland entspricht. Die rote gepunktete Linie darüber liegt bei 30000 Betten, was in etwa die Gesamtzahl der Intensivbetten in Deutschland ist.

Man sieht, dass im schlimmeren Szenario (rote gestrichelte Linie) schon am Tag 188 die Grenze von 10000 Intensivbetten überschritten wird (das ist in 12 Tagen); setzt sich das Wachstum weiter genauso fort, wird am Tag 194, das heisst nur 6 Tage später, die Grenze von 30000 Intensivbetten überschritten. Dann wären alle Intensivbetten durch schwer an Covid-19 Erkrankte belegt.

Fällt das Wachstum langsamer aus (also in etwa so, wie es zwischen Tag 150 und Tag 170 war) so dauert es bis Tag 249, bis 10000 Intensivbetten erreicht sind. Das ist ungefähr zum Jahreswechsel 2020/2021.

Es dauert dann (nur) noch bis zum Tag 279, bis auch die restlichen Intensivbetten belegt sein werden, also 30000 Intensivbetten erreicht werden. Das ist nur 30 Tage später.

Bemerkung: Die rote gestrichelte Linie entspricht einer Verdopplungszeit von etwa 4 Tagen, die magentafarbene einer Verdopplungszeit von etwa 19 Tagen.

Zu bedenken ist auch, dass lokal schon viel früher Knappheit an Intensivkapazitäten auftreten kann. Zudem kann menschliches Leid bereits mit der vorausschauenden Freihaltung von Intensivbetten und der Verschiebung von anderen Behandlungen und Operationen beginnen.

Zu bedenken ist auch, dass etwa ein Viertel der Menschen versterben, die mit Covid-19 auf eine Intensivstation kommen.

Die aktuellen Zahlen laut Situationsreport des RKI vom 26.10.2020:
Aktuell werden 46 Prozent der Covid-19-Intensivpatienten invasiv beatmet.
Von den 19757 Menschen mit Covid-19, deren intensivmedizinischen Behandlung zum heutigen Zeitpunkt abgeschlossen ist, sind 23 Prozent verstorben (genauer gesagt 4529 Menschen). Wer invasiv beatmet wird hat laut Corona-Steckbrief des RKI in Deutschland eine etwa 50-prozentige Chance zu überleben.

Für alle staatlichen Maßnahmen ist zu bedenken, dass es von der Ansteckung bis zur Aufnahme auf eine Intensivstation einen erheblichen Zeitverzug gibt.

Das RKI rechnet aktuell mit (im Median) 10 Tagen von den ersten Symptomen bis zur Aufnahme auf eine Intensivstation. Es geht weiter von (im Median) 16 Tagen vom Symptombeginn bis zum Tod aus. Die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation bei invasiver Beatmung ist im Median 18 Tage! (Dabei werden für einen Intensivbehandlung mit Beatmung pro Fall etwa 40000 Euro an Kosten verursacht, schwerste Fälle verursachen Kosten bis zu 85000 Euro.)

Natürlich wird keines der Szenarien so eintreten, denn steigende Vorsicht, Maßnahmen der Landkreise etc. werden schon in wenigen Wochen dazu führen, dass sich die Wachstumsgeschwindigkeit verlangsamen wird (allerdings mit erheblichen Zeitverzug, s.o.; zumindest bleibt zu hoffen, dass weniger Menschen die Masken weiterhalb unterhalb der Nase tragen). Witterung und andere Faktoren arbeiten allerdings in die Gegenrichtung.

Wenn Personen mit erhöhtem Risiko auf FFP2-Masken (und äquivalente CPA-Masken) umsteigen würden, würde das die Anzahl der Intensivpatienten sicher ebenfalls noch einmal reduzieren. CPA-Masken gibt es inzwischen für 2,50 Euro das Stück; sogar inzwischen von einem sächsischen Hersteller, produziert in Sachsen mit Maschinen aus Sachsen.

Die Filterleistung von N95/FFP2/KN95/…-Masken bleibt ca. 8 bis 12 Stunden ausreichend sogar für den medizinischen Einsatz (siehe Empfehlungen der amerikanischen Seuchenbehörde CDC). Auch danach (die Masken bitte rotieren) werden sie sehr wahrscheinlich besser filtern als Alltagsmasken aus Baumwolle.

Stellungnahme aus der Wissenschaft zur Lage

Bemerkung: Zur sich verschärfenden Corona-Lage in Deutschland haben die vier großen nicht-universitären Wissenschaftsorganisationen (Fraunhofer, Helmholtz, Leibniz-, und Max-Planck-Gesellschaft) gemeinsam mit der Leopoldina eine Erklärung verfasst („Gemeinsame Erklärung der Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina„), die am 27.10.2020 veröffentlich wurde.

Der Titel ist „Coronavirus-Pandemie: Es ist ernst„.

Denn die Kontaktnachverfolgung trägt maßgeblich dazu bei, dass R klein bleibt, indem Ansteckungsketten unterbrochen werden (auch die Corona-Warn-App könnte dies leisten, aber sie wird immer noch zu wenig genutzt; wenn sie genutzt wurde, scheint ein fehlendes Häkchen auf dem Testformular (immernoch?) Probleme zu machen). Das bedeutet, dass R ab einem „Kipppunkt“ deutlich wachsen wird, was zu einem beschleunigten exponentiellen Wachstum führen würde. Das Dokument diskutiert neben den Neuinfektionen auch die erwarteten Sterbezahlen (Abbildung 3) und weist noch einmal auf den Zeitverzug nach Eindämmungsmaßnahmen hin.

  • Ein weiteres Argument ist, dass bei spätem Handeln die Eindämmungmaßnahmen lange aufrecht erhalten werden müssen, was zu sehr viel höheren Kosten führen würde

Was soll getan werden? Konkret wird vorgeschlagen, die

Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel„!

Es wird als Ziel formuliert: „Das Ziel muss es sein, die Fallzahlen so weit zu senken, dass die Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung wieder vollständig durchführen können. Sobald dies möglich ist, können die Beschränkungen vorsichtig gelockert werden, ohne dass unmittelbar eine erneute Pandemiewelle droht. Das muss aber bereits jetzt vorbereitet werden. Nach etwa 3 Wochen deutlicher Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen wird es entscheidend sein, die nachfolgenden Maßnahmen bundesweit einheitlich und konsequent durchzusetzen, um die dann erreichte niedrige Fallzahl zu halten. Hierfür ist eine breit angelegte Kommunikations-Anstrengung notwendig, die in ganz Deutschland an allen öffentlichen Orten die AHA+L+A (Abstands-, Hygiene-und Alltagsmasken, Lüften, Corona-Warn-App)-Regeln unzweideutig und bundesweit einheitlich kommuniziert. Die Einhaltung dieser fundamentalen Regeln sollte besser kontrolliert und bei Nichtbeachtung konsequent geahndet werden. Das beinhaltet die stringente Einhaltung der Maskenpflicht sowie eine Kontrolle der Hygiene-Konzepte z.B. in Hotels, Restaurants und auf Veranstaltungen.“ (Seite 6 der Erklärung)

Als weitere Maßnahmen wird empfohlen:

  1. Schutz von Risikogruppen,
  2. verbesserte Kommunikation mit Beispielen,
  3. Masken auch in Schulen,
  4. verstärkte Nutzung der Corona-Warn-App,
  5. freiwillige Einschränkung von privaten Kontakten,
  6. Schärfung und Kontrolle von Hygiene-Konzepten.