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23. Dezember 2020 – Oliver Rheinbach

Was man über die neue SARS-CoV-2-Variante VUI-202012/01 (bzw. B.1.1.7) aus Großbritannien weiß…

Den aktuell kursierenden Notizen einer NERVTAG-Pressekonferenz und einem Dokument der Public Health England mit dem Titel „Investigation of novel SARS-COV-2 variant – Variant of Concern 202012/01“ ist zu entnehmen, dass es deutliche Hinweise darauf gibt, dass die neue in Großbritannien aufgetretene, am Spike-Protein mutierte Corona-Variante VUI-202012/01 (teilweise auch B.1.1.7 genannt) infektöser ist, als die „alte“ Variante.

Gut: Bislang scheinen die Daten nicht auf eine höhere Sterblichkeit hinzuweisen, weiterhin scheinen die Mutationen nicht so stark zu sein, dass man wieder neue Impfungen entwickeln müsste. Allerdings ist dies alles noch nicht sicher und wird untersucht werden müssen.  Nachtrag (8.2.2020): Inzwischen zeichnet sich ab, dass mindestens ein Impfstoff gegen eine Mutation aus Südafrika (die in einer Bevölkerung mit großer Durchseuchung entstanden ist, um der Immunantwort auszuweichen) weniger wirksam ist. Nachtrag (11.02.2021): Inzwischen scheint sich abzuzeichnen, dass B.1.1.7 nicht nur ansteckender sondern auch tödlicher ist, als die alte Variante.

Schlecht: Bedenklich ist, dass die Variante vor allem deswegen aufgefallen ist, weil sie sich in Kent im September/Oktober 2020 exponentiell verbreitet hat (R>1), obwohl Bedingungen eines Lockdown(-light) in GB herrschten; „light“, weil u.a. die Schulen offen blieben und es keine Maskenpflicht im Unterricht gab. Also übrigens ähnliche Bedingungen, wie in Deutschland im Lockdown-light im November 2020, allerdings hatte GB offenbar die Universitäten auch für Präsenzveranstaltungen offen gehalten, während in Deutschland die Universitäten praktisch vollständig im Online-Modus waren (und sind).

Auf den erhöhten R-Wert schließen die Forscher durch Vergleich der Ausbreitung der alten und der neuen Variante in England den Kalenderwochen 44 bis 48 des Jahres 2020 (siehe Figure 1 im PHS-Dokument). Je nach angenommenen Modell erhalten sie eine additive R-Wert-Erhöhung um etwa 0,5 bis etwa 0,6 mit relativ engen Konfidenzintervallen.

Das Bedenkliche ist, dass diese R-Wert-Erhöhung unter Lockdown-Bedingungen gilt, also für ein R nahe 1, wie das England im Herbst 2020 hatte (siehe hier – wer hätte gedacht, das ich jemals die SUN verlinken würde, aber man sieht, sogar die SUN beschäftigt sich mit R-Werten). Die PHV-Report schreibt explizit (VOC ist die „Variant of Concern“ also die neue Variante VUI-202012/01) :

As an example, under the fixed effect model, an area with an Rt of 0.8 without the new variant would have an Rt of 1.32 [95%CI:1.19-1.50] if only the VOC was present.“ (Investigation of novel SARS-COV-2 variant – Variant of Concern 202012/01, Public Health England)

Das könnte bedeuteten, dass selbst die Bedingungen des harten Lockdowns in Deutschland aus dem März/April 2020 nicht reichen könnten, um die exponentielle Ausbreitung von SARS-CoV-2 in der Variante VUI-202012/01 zu stoppen. Der R-Wert lag während des ersten Lockdowns in Deutschland nahe 0,7 oder darüber, wie man hier nochmal sehen kann (siehe unten für die genauen Zahlenwerte).

Dies könnte bedeuten, dass eine Eindämmung von VUI-202012/01 (sollte sie in Deutschland Fuß fassen) wirtschaftlich extrem teuer sein könnte. Vor allem könnten die aus aktuellem Stand notwendigen strengen Maßnahmen wahrscheinlich nicht lange durchgehalten werden. Das könnte auch bedeuten, dass die Strategie der Bundesregierung mit „R nahe 1“ (um die Wirtschaftssystem am Laufen zu halten) für VUI-202012/01 nicht mehr durchführbar ist und man sich nun doch erfolgreiche asiatische Corona-Eindämmungsstrategien anschauen muss. Wichtig ist vielleicht auch nochmal darauf hinzuweisen, dass der Ausstieg aus dem ersten Lockdown im Frühjahr nach Ansicht von vielen Wissenschaftlern zu früh erfolgt ist, weil die Zahlen noch nicht niedrig genug waren. Das wäre für die neue Variante noch relevanter.

Nun ist es extrem wichtig, Zeit zu gewinnen und herauszufinden auf welche Weise die neue Virusvariante ansteckender ist also die alte Variante – damit man es gezielter eindämmen kann.

Aktuell kann man nur spekulieren: Es könnte etwa sein, dass eine niedrigere Viruslast für eine Ansteckung genügt (gut möglich, denn das mutierte  Spike-Protein passt wahrscheinlich besser auf den ACE2-Rezeptor der menschlichen Zelle). Möglich wäre auch, dass Infizierte eine höhere Virenlast haben (darauf gibt es Hinweise im einem NERVTAG-Dokument), oder dass mehr Infizierte als bisher eine hohe Virenlast haben (vielleicht verbreitet sich diese Variante nicht mehr hauptsächlich durch Superspreader, oder es gibt mehr Superspreader). Auch die Phase in der Infizierte ansteckend sind, könnte länger sein, insbesondere könnten Infizierte könnten noch früher ansteckend sein (also noch länger vor Symptombeginn). Eher unwahrscheinlich erscheint, dass die neue Corona-Variante neue Übertragungswege erschlossen hat. Aber das ist alles unklar und muss nun schnell untersucht werden.

Unten die genauen Zahlenwerte für den R-Wert in Deutschland aus der ersten Welle vom 21.03.2020 bis 21.05.2020. Demnach hätte eine Erhöhung des R-Wertes um nur 0,3 (!) für jeden Tag im Frühjahr zu exponentiellem Wachstum geführt – statt zu einer erfolgreichen Eindämmung!

Nachtrag: Die Impfung wird (selbst wenn sie sehr effektiv ist) Herdenimmunität erst gegen Ende 2021 herstellen können. Bis dahin bleibt nur weiter Eindämmung durch Abstand, Masken (FFP2 oder CPA, wo viele Menschen zusammenkommen), Kontaktreduktion, Schnelltests (bitte endlich für den Hausgebrauch freigeben), Lüftung(sanlagen) – und, ach ja, Händewaschen.

Nachtrag (2.2.2021): Inzwischen wird die britische Variante meist B.1.1.7 genannt, sie ist in Deutschland bei Ausbrüchen in Kliniken nachgewiesen worden und auch in Kindergärten. Es ist relativ klar, dass sie ansteckender ist, als die ursprüngliche Variante.

Nachtrag (3.2.2021): In Köln wurden in 880 positiven Proben 80 mal die britische Variante B.1.1.7 gefunden. Es ist daher zu erwarten, dass nun auch in Deutschland der bisher bekannte Corona-Virustyp von der Mutante B.1.1.7 verdrängt werden wird, die sich deutlich schneller ausbreitet.

Hier der R-Wert aus Deutschland der ersten Welle, Daten vom 21.03.2020 bis 21.05.2020:

0.97
0.86
0.88
0.85
0.88
0.96
0.89
0.94
0.87
0.89
0.91
0.93
1.03
0.96
0.96
0.86
0.81
0.8
0.83
0.91
0.86
0.82
0.75
0.68
0.71
0.78
0.84
0.89
0.87
0.79
0.79
0.78
0.82
0.89
0.85
0.83
0.78
0.76
0.78
0.81
0.89
0.86
0.85
0.85
0.83
0.9
0.95
0.97
0.92
0.85
0.79
0.79
0.82
0.9
0.95
0.97
0.97
0.91
0.96
0.86
0.89
0.92

27. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Wann werden die Intensivbetten in Deutschland wegen Covid-19 knapp werden?

Die Sueddeutsche Zeitung liefert auf Sueddeutsche.de nicht nur aktuelle Graphiken zur Corona in Deutschland, sondern auch die Rohdaten.

Wir werfen heute (ohne jegliche Simulation) einen Blick auf Zahl der Covid-19-Kranken auf Intensivstationen. Diese Daten sind (anders als die Zahl der Neuinfektionen, wo es eine hohe Dunkelziffer geben könnte) ziemlich sicher.

Tag 1 ist der 26.4.2020, ab da gibt es erst Daten im DIVI-Register. Hier sind die Daten von Sueddeutsche.de allerdings mit einer logarithmisch skalierten y-Achse.

Man sieht, dass die Daten zwischen Tag 150 und Tag 170 ziemlich gut auf einer Geraden liegen, was auf exponentielles Wachstum hinweist. Die letzten 6 Tage liegen scheinen auf einer noch etwas steileren Gerade zu liegen.

Passen wir also testweise (mit der Methode der kleinsten Quadrate) eine Gerade an die Tage 150 bis 170 an und eine weitere an die Tage 171 bis 176.

Wir können die angepassten Geraden in die Zukunft fortführen, was die magentafarbene gestrichelte Linie und rote gestrichelte Linie ergibt.

Die horizontale, grüne, gepunktete Linie liegt bei 10000 Betten, was in etwa den aktuell freien Intensivbetten in ganz Deutschland entspricht. Die rote gepunktete Linie darüber liegt bei 30000 Betten, was in etwa die Gesamtzahl der Intensivbetten in Deutschland ist.

Man sieht, dass im schlimmeren Szenario (rote gestrichelte Linie) schon am Tag 188 die Grenze von 10000 Intensivbetten überschritten wird (das ist in 12 Tagen); setzt sich das Wachstum weiter genauso fort, wird am Tag 194, das heisst nur 6 Tage später, die Grenze von 30000 Intensivbetten überschritten. Dann wären alle Intensivbetten durch schwer an Covid-19 Erkrankte belegt.

Fällt das Wachstum langsamer aus (also in etwa so, wie es zwischen Tag 150 und Tag 170 war) so dauert es bis Tag 249, bis 10000 Intensivbetten erreicht sind. Das ist ungefähr zum Jahreswechsel 2020/2021.

Es dauert dann (nur) noch bis zum Tag 279, bis auch die restlichen Intensivbetten belegt sein werden, also 30000 Intensivbetten erreicht werden. Das ist nur 30 Tage später.

Bemerkung: Die rote gestrichelte Linie entspricht einer Verdopplungszeit von etwa 4 Tagen, die magentafarbene einer Verdopplungszeit von etwa 19 Tagen.

Zu bedenken ist auch, dass lokal schon viel früher Knappheit an Intensivkapazitäten auftreten kann. Zudem kann menschliches Leid bereits mit der vorausschauenden Freihaltung von Intensivbetten und der Verschiebung von anderen Behandlungen und Operationen beginnen.

Zu bedenken ist auch, dass etwa ein Viertel der Menschen versterben, die mit Covid-19 auf eine Intensivstation kommen.

Die aktuellen Zahlen laut Situationsreport des RKI vom 26.10.2020:
Aktuell werden 46 Prozent der Covid-19-Intensivpatienten invasiv beatmet.
Von den 19757 Menschen mit Covid-19, deren intensivmedizinischen Behandlung zum heutigen Zeitpunkt abgeschlossen ist, sind 23 Prozent verstorben (genauer gesagt 4529 Menschen). Wer invasiv beatmet wird hat laut Corona-Steckbrief des RKI in Deutschland eine etwa 50-prozentige Chance zu überleben.

Für alle staatlichen Maßnahmen ist zu bedenken, dass es von der Ansteckung bis zur Aufnahme auf eine Intensivstation einen erheblichen Zeitverzug gibt.

Das RKI rechnet aktuell mit (im Median) 10 Tagen von den ersten Symptomen bis zur Aufnahme auf eine Intensivstation. Es geht weiter von (im Median) 16 Tagen vom Symptombeginn bis zum Tod aus. Die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation bei invasiver Beatmung ist im Median 18 Tage! (Dabei werden für einen Intensivbehandlung mit Beatmung pro Fall etwa 40000 Euro an Kosten verursacht, schwerste Fälle verursachen Kosten bis zu 85000 Euro.)

Natürlich wird keines der Szenarien so eintreten, denn steigende Vorsicht, Maßnahmen der Landkreise etc. werden schon in wenigen Wochen dazu führen, dass sich die Wachstumsgeschwindigkeit verlangsamen wird (allerdings mit erheblichen Zeitverzug, s.o.; zumindest bleibt zu hoffen, dass weniger Menschen die Masken weiterhalb unterhalb der Nase tragen). Witterung und andere Faktoren arbeiten allerdings in die Gegenrichtung.

Wenn Personen mit erhöhtem Risiko auf FFP2-Masken (und äquivalente CPA-Masken) umsteigen würden, würde das die Anzahl der Intensivpatienten sicher ebenfalls noch einmal reduzieren. CPA-Masken gibt es inzwischen für 2,50 Euro das Stück; sogar inzwischen von einem sächsischen Hersteller, produziert in Sachsen mit Maschinen aus Sachsen.

Die Filterleistung von N95/FFP2/KN95/…-Masken bleibt ca. 8 bis 12 Stunden ausreichend sogar für den medizinischen Einsatz (siehe Empfehlungen der amerikanischen Seuchenbehörde CDC). Auch danach (die Masken bitte rotieren) werden sie sehr wahrscheinlich besser filtern als Alltagsmasken aus Baumwolle.

Stellungnahme aus der Wissenschaft zur Lage

Bemerkung: Zur sich verschärfenden Corona-Lage in Deutschland haben die vier großen nicht-universitären Wissenschaftsorganisationen (Fraunhofer, Helmholtz, Leibniz-, und Max-Planck-Gesellschaft) gemeinsam mit der Leopoldina eine Erklärung verfasst („Gemeinsame Erklärung der Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina„), die am 27.10.2020 veröffentlich wurde.

Der Titel ist „Coronavirus-Pandemie: Es ist ernst„.

Denn die Kontaktnachverfolgung trägt maßgeblich dazu bei, dass R klein bleibt, indem Ansteckungsketten unterbrochen werden (auch die Corona-Warn-App könnte dies leisten, aber sie wird immer noch zu wenig genutzt; wenn sie genutzt wurde, scheint ein fehlendes Häkchen auf dem Testformular (immernoch?) Probleme zu machen). Das bedeutet, dass R ab einem „Kipppunkt“ deutlich wachsen wird, was zu einem beschleunigten exponentiellen Wachstum führen würde. Das Dokument diskutiert neben den Neuinfektionen auch die erwarteten Sterbezahlen (Abbildung 3) und weist noch einmal auf den Zeitverzug nach Eindämmungsmaßnahmen hin.

  • Ein weiteres Argument ist, dass bei spätem Handeln die Eindämmungmaßnahmen lange aufrecht erhalten werden müssen, was zu sehr viel höheren Kosten führen würde

Was soll getan werden? Konkret wird vorgeschlagen, die

Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel„!

Es wird als Ziel formuliert: „Das Ziel muss es sein, die Fallzahlen so weit zu senken, dass die Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung wieder vollständig durchführen können. Sobald dies möglich ist, können die Beschränkungen vorsichtig gelockert werden, ohne dass unmittelbar eine erneute Pandemiewelle droht. Das muss aber bereits jetzt vorbereitet werden. Nach etwa 3 Wochen deutlicher Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen wird es entscheidend sein, die nachfolgenden Maßnahmen bundesweit einheitlich und konsequent durchzusetzen, um die dann erreichte niedrige Fallzahl zu halten. Hierfür ist eine breit angelegte Kommunikations-Anstrengung notwendig, die in ganz Deutschland an allen öffentlichen Orten die AHA+L+A (Abstands-, Hygiene-und Alltagsmasken, Lüften, Corona-Warn-App)-Regeln unzweideutig und bundesweit einheitlich kommuniziert. Die Einhaltung dieser fundamentalen Regeln sollte besser kontrolliert und bei Nichtbeachtung konsequent geahndet werden. Das beinhaltet die stringente Einhaltung der Maskenpflicht sowie eine Kontrolle der Hygiene-Konzepte z.B. in Hotels, Restaurants und auf Veranstaltungen.“ (Seite 6 der Erklärung)

Als weitere Maßnahmen wird empfohlen:

  1. Schutz von Risikogruppen,
  2. verbesserte Kommunikation mit Beispielen,
  3. Masken auch in Schulen,
  4. verstärkte Nutzung der Corona-Warn-App,
  5. freiwillige Einschränkung von privaten Kontakten,
  6. Schärfung und Kontrolle von Hygiene-Konzepten.

 

24. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Warum die Rückwärtsverfolgung von Corona-Infektionen so wichtig ist…

Der Virologe Christian Drosten weist seit Langem darauf hin, dass Kontakttagebücher und (neben der Vorwärtsverfolgung) die Rückwärtsverfolgung von Kontakten wichtig sind. Sehr interessant ist auch der Artikel auf theatlantic.com zum erfolgreichen Einsatz von Rückwärtsverfolgung in Asien.

Auch jetzt, wo erste Ballungszentren in Deutschland mit den Kontaktnachverfolgung nicht mehr nachkommen (hier Berlin), bleibt dies gültig.

Es geht darum, dass sich SARS-CoV-2 vor allem durch Superspreading-Events verbreitet. Grob gesprochen heisst dies, dass 10 Prozent der Infizierten 80 Prozent der Neuinfektionen verursachen. Im Umkehrschluss bedeutet das, das viele Infizierte niemanden infizieren (wer z.B. vom seinem bereits erkrankten Partner im Haushalt angesteckt wurde, wird wahrscheinlich niemand weiteren mehr anstecken, sondern von Anfang an mit dem Partner zuhause geblieben sein; sehr wahrscheinlich ist man sogar früh genug in angeordneter Quarantäne).

Dies ist die mathematische Arbeit zum Thema Rückwärtsverfolgung, die im Artikel in „The Atlantic“ erwähnt wird. Der Artikel ist unter eine Creative-Common-Lizenz (CC BY 4.0) publiziert, weshalb ich hier die wichtigste Abbildung darstellen kann.

Die Botschaft ist:

Wurde ein Corona-Infizierter gefunden, wird er über seine Kontakte befragt. Bekanntermaßen ist ein Infizierter bereits ca. 4 Tage vor den ersten Symptomen infektiös. Daher müssen alle Risikokontakte bis vor Tage vor Symptombeginn gesucht werden.

Da sich SARS-CoV-2 vor allem durch Superspreading-Events verbreitet, findet man bei der Vorwärtssuche einige wenige Risikokontakte. Schaut man aber rückwärts (stellt man also die Frage, wo die Person sich angesteckt hat), findet man mit großer Wahrscheinlichkeit ein Superspreading-Event (daher müssen Gesundheitsämter unbedingt nach Feiern, Gottesdiensten, etc. fragen). Die Teilnehmer an diesem Event müssen dann alle sofort (ohne Test) unter Quarantäne gestellt werden. Im nächsten Schritt müssen deren Kontakte ebenfalls gesucht werden (siehe Abbildung oben).

Hier noch ein Beispiel mit 5 Infizierten (oberste Reihe, genannt A1 bis A5). Es wird angenommen, dass jeder Infizierte durchschnittlich 2 weitere Personen mit Corona infiziert. Allerdings erfolgt die Übertragung hauptsächlich durch durch Superspreader. Hier steckt A1 insgesamt 8 weitere an (B1 bis B8), A2 und A3 stecken niemanden an und A4 und A5 jeweils eine Person (B9 und B10).

Dieses Verhalten setzt sich in der nächsten Generation fort: B1 steckt 8 Personen an, B8 ebenfalls 8 Personen; B3, B4, B9 und B10 stecken eine Person ab. Angenommen B4 und B8 werden durch Tests zufällig entdeckt, weil sie sich nach Symptomen in einem Testzentrum vorgestellt haben. Sie haben jedoch bereits andere angesteckt (Infektionsität beginnt ca. 4 Tage vor Symptomen).

Wird nun nur vorwärts verfolgt, werden nur die magentafarbenen Infizierten entdeckt (die dann sofort in Quarantäne müssen). Nur wenn man das Superspreading-Event identifiziert, kann man die gelb markierten Infizierten finden.

Eine Nebenbemerkung zum infektiösen Interval bei SARS-CoV-2: Ursprünglich ging man davon aus, dass Infizierte erst 2 Tage vor Beginn ihrer Symptome ansteckend sind. Das basierte auf einem Fehler in der Datenanalyse in einem einflussreichen frühen Nature-Artikel chinesischer Autoren. Die neue Analyse der Rohdaten durch die ETH Zürich zeigte, dass man 3 Tage vor Symptombeginn nach Kontakten schauen muss, um 80% der Infektionen zu finden, und sogar 4 Tage vor Symptombeginn, um 91% der Infektionen zu finden (siehe Tabelle 2 im Artikel). Dagegen war man vorher davon ausgegangen, dass man 98% der Infektionen findet, wenn man nur bis zu 2 Tage vor Symptombeginn danach sucht. Hier der entscheidende Satz der Schweizer Autoren:
Our reanalysis suggests that tracing contacts of infected index cases as far back as 2 or 3 days before symptom onset in the index case might not be sufficient to find all secondary cases.“ (Fettdruck nicht im Orginal).

Die Autoren des Orginalartikels in Nature-Medicine haben übrigens in der Folge eine Korrektur veröffentlicht. Die entscheidende Korrektur dabei ist: ‚The time frame in the first sentence of the tenth paragraph of the main body of the text (“2 to 3 days”) was incorrect. The correct time frame is “5 to 6 days.”

Allerdings: Offenbar hat das Robert-Koch-Institut seine Kontaktverfolgungsstrategie nicht angepasst, obwohl der Fehler im Nature-Artikel schon seit August bekannt ist (RKI: Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei Infektionen durch SARS-CoV-2, Stand: 19.10.2020):
„Unseren Empfehlungen liegen folgende Annahmen zugrunde:

  • Die Dauer der Inkubationszeit beträgt in den meisten Fällen maximal 14 Tage.
  • Der Mittelwert/Median für die Inkubationszeit liegt bei 5-6 Tagen.
  • Die Dauer der infektiösen Periode beträgt etwa 12 Tage. Sie beginnt bei
    • asymptomatischem Quellfall (Exposition bekannt): am Tag 3 nach Exposition;
    • bei asymptomatischem Quellfall (nur Probenahme-Termin bekannt): am Tag 2 vor der Probenahme;
    • bei symptomatischem Quellfall: 2 Tage vor Symptombeginn(Fettdruck nicht im Orginal)

und damit konsistent bemisst das RKI das infektiöse Zeitintervall für die Kontaktverfolgung wie folgt:

Das infektiöse Zeitintervall für symptomatische Fälle mit bekanntem Symptombeginn:
Ab dem 2. Tag vor Auftreten der ersten Symptome des Falles bis mindestens 10 Tage nach Symptombeginn, bei schwerer oder andauernder Symptomatik ggf. auch länger, siehe www.rki.de/covid-19-entlassungskriterien„.

Nach der Analyse der ETH kann man mit der immer noch aktuellen Strategie des RKI nur 61% (Konfidenzinterval 40–83%) finden, die restlichen 39% der Infektionen bleiben unauffindbar.

Noch eine Bemerkung: Aus den Medienberichten ist nicht klar, ob das RKI und die Gesundheitsämter eine Rückwärtsverfolgung wie oben beschrieben betreiben. Es ist aber klar, dass die Gesundheitsämter in Deutschland offenbar eine Form der Rückwärtsverfolgung praktizieren, denn das RKI präsentierte zuletzt die häufigsten SARS-CoV-2-Ansteckungsorte. Die Graphik findet sich auch im Situationsbericht vom 20.10.2020. Allerdings konnten die Gesundheitsämter nur bei 27 Prozent der Infektionen eine Zuordnung zu einem Ausbruchsgeschehen vornehmen: „Insgesamt wurden 55.141 (27 %) von 202.225 übermittelten Fällen mindestens einem Ausbruchsgeschehen zugeordnet. Der Anteil von Fällen, die einem Ausbruch zugeordnet wurden, liegt bei Kindern bei rund 40 %, nimmt dann bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ab und erst in der Altersgruppe der ab 80-Jährigen wieder deutlich zu.

Leider sind die Daten des RKI zu Ausbrüchen sehr start aggregiert. Der Allgemeinheit wäre durch anekdotische Fallbeispiele (case studies) für vergangene SARS-CoV-2-Übertragungen sicher besser gedient. Daraus könnte jeder Rezepte für sein eigenes Verhalten ableiten. Die Details im  Epidemiologisches Bulletin des RKI vom 17. September sind dennoch interessant. Es handelt sich im die Daten zu den Ansteckungsorten von 55151 Infizierten in Deutschland (allerdings konnte der Ansteckungsort von 147084 Infizierten nicht aufgeklärt werden):

Zu einigen dieser Details: Das RKI berichtet von einer durchschnittlichen Ausbruchsgröße von 4,8 Personen in Schulen (31 Ausbrüche mit 150 Ansteckungen, siehe Tabelle 2) und 5,1 Personen in Kindergärten (33 Ausbrüche, die zu 168 Neuinfizierten führten). Kam es in einem Restaurant zu einem Ausbruch, so wurden 7,2 Personen angesteckt (man wüsste gerne, wie viele Ausbrüche davon geschlossene Gesellschaften waren). Kam es in einem Heim zu einem Ausbruch, wurden mehr als 18 Personen angesteckt. Geschah ein Ausbruch in einem Krankenhaus, dann wurden durchschnittlich mehr als 10 Personen infiziert. Die meisten Ausbrüche (3902) geschahen allerdings naturgemäß im privaten Haushalt; da Haushalte in Deutschland nicht so groß sind, wurden dabei aber durchschnittlich nur 3,2 Personen angesteckt. An Universitäten fand das RKI übrigens nur einen einzigen Ausbruch (mit 4 Infizierten) im betrachteten Zeitraum. Kein Wunder, denn es sind (wenig beachtet durch die Medien) alle Universitäten seit April im fast vollständig virtuellen Modus (E-Learning statt Hörsäle). Und das geht im aktuellen Wintersemester 2020 auch so weiter.

 

Hier noch ein Nachtrag zu SEIR-Modellen:

Ich wurde darauf hingewiesen, dass die diskretisierte Form des SEIR-Modells einfacher zu verstehen ist. In der Tat wollte ich schon seit Langem den Octave-Quellcode hier besprechen. Allerdings kam ich nie dazu.

Hier daher die Iterationsvorschrift (entnommen aus der Octave/Matlab-Implementierung), die bei Diskretisierung mit dem expliziten Euler-Verfahren herauskommt (hier Schrittweite 1 Tag):

t=[1:n];
for i=t
  S(i+1)=S(i)-beta*S(i)*I(i);
  E(i+1)=E(i)+beta*S(i)*I(i)-alpha*E(i);
  I(i+1)=I(i)+alpha*E(i)-gamma*I(i);
  R(i+1)=R(i)+gamma*I(i);
endfor

Dabei sind S die Infizierbaren (susceptibles), E die Exponierten (exposed),  I die Infizierten (infected), und R die Geheilten oder Verstorbenen (recovered/removed). Alle diese Variablen nehmen Werte zwischen 0 (0 Prozent) bis 1 (100 Prozent) an.

Für die Parameter gilt: 1/alpha ist die Zeit in Tagen, in der “exponiert” zu “infiziert” wird (Latenzzeit), 1/beta die Zeit zwischen zwei Kontakten in Tagen, 1/gamma die infektiöse Zeit in Tagen.

Sinnvolle Werte können etwa sein:

alpha = 1/3;
gamma = 1/10;
beta = R0*gamma;

bevoelkerung=82000000;

Und als Start für die Infizierten istart=1000/bevoelkerung.

Natürlich kann man das Verfahren auch in jeder Tabellenkalkulation implementieren. Die Schrittweite von einem Tag ist zwar etwas ungenau, wenn man über viele Tage rechnet, aber es geht ja nicht um tagesgenaue Vorhersagen.

Hier die Übungsaufgabe aus dem Sommersemester aus der Veranstaltung Numerik für Mathematiker/innen. Diese Aufgaben könnte sogar in einer Tabellenkalkulation gelöst werden (aktuelles R: zwischen 1,2 und 1,4)

 

16. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Die zweite Corona-Welle da, aber sie ist flacher…

Die zweite Corona-Welle ist da, wie man an den Daten zu den gemeldeten Neuinfektionen sieht (hier die Daten von Sueddeutsche.de). Inzwischen ist klar, dass diese Welle kein Artefakt durch mehr Tests ist, sondern sie ist real. Eine Überlastung der Krankenhäuser wurde bisher vermieden, weil sich weniger ältere Menschen angesteckt haben. Laut RKI steigt der Anteil der Älteren seit Anfang September wieder.

Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen ist heute erstmals höher als sie in der ersten Welle waren.

Tag 0 in der Graphik ist der 01.03.2020. Die blaue Kurve sind die gemeldeten Neuinfektionen. Die rote Kurve ist der gleitende Mittelwert über 7 Tage. Es ist sinnvoll, den gleitenden Mittelwert zu betrachten, weil die Meldedaten klar vom Wochentag abhängen. Unklar ist natürlich immer noch die Dunkelziffer. Sie kann sehr viel höher liegen

In der Darstellung mit logarithmisch skalierter y-Achse sieht man, dass der exponentielle Anstieg flacher ist, als im März – klar, das RKI weist aktuell ein 7-Tage-R von 1,3 aus; das ist weit entfernt Werten um die 3 vom März.

Allerdings kommen die Warnungen der Politik und die Ankündigung von weiteren staatlichen Eindämmungsmaßnahmen (gestern beschlossen) später als in der ersten Welle.

Was würde passieren, wenn die Maßnahme unwirksam oder nur teilweise wirksam wären? Im Grunde steht die Antwort schon im Post über R=1,2.

Aber wir können wir uns dazu auch nochmal das SEIR-Modell ansehen (to be continued).

Was ist eigentlich der aktuelle Stand?

Das RKI meldet heute:

348.557 bestätigte Fälle in Deutschland seit Beginn der Pandemie

9.734 Verstorbene seit Beginn der Pandemie

geschätzte 287.600 Genesene

7-Tage-R-Wert: 1,3 (95%- Prädiktionsintervall: 1,12 – 1,49)

4-Tage-R-Wert: 1,22 (95%-Prädiktionsintervall: 0,92 – 1,52

06. Oktober 2020 – Oliver Rheinbach

Trumps Corona-Infektion – Mediendiskussion übersieht Corona-Schnelltests

Wer den Schaden hat… – in diese Richtung gehen aktuell viele Kommentare in den Medien. Dabei wäre die Infektion ein Anlass über Corona-Schnelltests, ihre Eigenschaften und ihren sinnvollen Einsatz zu diskutieren.

Gerne wird darauf hingewiesen, dass Trump sich etwa auf der Nominierungsveranstaltung von Amy Coney Barrett für den obersten Gerichtshof der USA angesteckt haben könnte.

Die Veranstaltung im Rosengarten des Weißen Hauses war zwar draußen, aber Abstände wurden offenbar nicht eingehalten (in den USA gelten 6 Fuß Abstandsgebot, also ca. 2 Meter, nicht 1,50 Meter wie in Deutschland; gut, das Land ist ja auch größer), und es wurden keine (Alltags?) Masken getragen. Hätte das verboten gehört? Oder war es mindestens fahrlässig? Waren alle unverantwortlich? Oder war die Veranstaltung zumindest unklug für einen Regierungschef?

(Inzwischen sollte unstrittig sein, dass Alltagsmasken einen Effekt haben, siehe jüngste Veröffentlichungen hier zu kanadischen Daten, und hier zu Jena.)

Bemerkung nebenbei: Nach den aktuellen Coronaschutzverordnungen der deutschen Bundesländer wäre so eine Veranstaltung in Deutschland nicht grundsätzlich verboten, sofern für die Kontaktverfolgung Namenslisten geführt werden und feste Sitzplätze eingehalten werden. Etwa bestimmt die Coronaschutzverordnung von NRW vom 16.09.2020:Bei Veranstaltungen, Versammlungen oder Angeboten, bei denen die Teilnehmer auf festen Plätzen sitzen, kann für die Sitzplätze das Erfordernis eines Mindestabstands von 1,5 Metern zwischen Personen durch die Sicherstellung der besonderen Rückverfolgbarkeit nach § 2a Absatz 2 ersetzt werden.“ Ziel der Verordnungen ist durchaus nicht, jede Ansteckung zu verhindern. Ansteckungen sollen, nachdem sie passiert sind, nur nachverfolgt werden können. Auf dieser Grundlage öffnen etwa Theater in NRW wieder mit 60 Prozent Belegung.

Hier soll es aber um etwas anderes gehen: In nur wenigen Medien (etwa die sicherlich unverdächtige Washington Post) wird erwähnt, dass die Gäste der Veranstaltung im Rosengarten des Weißen Hauses zunächst durchaus Masken trugen. Nach einem Corona-Schnelltest wurde ihnen aber gesagt, dass es nun sicher sei, die Masken anzulegen:

Guests were administered rapid coronavirus tests upon arrival and waited in a room wearing masks, according to Jenkins, the Notre Dame president. Then, he wrote in a statement Friday, ‚we were notified that we had all tested negative and were told that it was safe to remove our masks.‘ “ (Washington Post, Oct. 3, 2020 at 4:32 a.m. GMT+2, Title: Invincibility punctured by infection: How the coronavirus spread in Trump’s White House)

Die Frage nach dem sinnvollen Einsatz von Schnelltests wäre eine intensive Mediendiskussion wert, inklusive der Eigenschaften von PCR und Antigen-Schnelltests, d.h. ihrer

Sensitivität (Anteil der Infizierten, die korrekt als infiziert erkannt werden)

und

Spezifität (Anteil der Gesunden, die korrekt als gesund erkannt werden).

Bemerkung: Der in Deutschland schon verfügbare Corona-Schnelltest der Firma Roche (aus rechtlichen Gründen in D kein Verkauf an Privatpersonen) gibt etwa eine Spezifität von 99,68% an und eine Sensitivität von 96,52%. Allerdings ist die Studie, auf der diese Zahlen basieren noch recht klein.

Da in Deutschland diskutiert wird, solche etwa Corona-Schnelltests für Besucher von Pflegeheimen einzusetzen, wäre es nun der richtige Zeitpunkt, ihre Eigenschaften zu diskutieren. Und warum ihr Einsatz im Falle vom Trump nicht ausgereicht haben könnte.

Nachtrag (6.10.2020): Die Firma Abbott gibt für ihren Covid-19 Antigen eine Sensitivität von 93,3%  und eine Spezifität von 99,4% an. Nach einigen Medienberichten wurde ein Test der Firma Abbott bei der Veranstaltung im Rosengarten des Weißen Hauses eingesetzt. Eine Sensitivität von 93,3% bedeutet dabei, dass fast 7 von 100 Infizierten nicht als infiziert identifiziert werden (falsch negativ).

 

23. August 2020 – Oliver Rheinbach

Corona: Wie es weitergehen würde, wenn R bei 1,2 bliebe…

Die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland hat wieder die Marke von 2000 gemeldeten Neuinfektionen pro Tag erreicht, das vom RKI ausgewiesene 7-Tage-R liegt nun schon seit mehr als 5 Wochen fast durchgehend zwischen 1 und 1,3. Und in den Medien wird über den Begriff der zweiten Welle diskutiert.

Aber was bedeutete es, wenn das R dauerhaft bei einem Wert von, sagen wir, R=1,2 bliebe?

Wir haben schon anhand eines SIR-Modells betrachtet, was hätte passieren können, wenn im März nicht umfangreiche Corona-Eindämmungsmaßnahmen in Deutschland getroffen worden wären.

Hier rechnen wir mehr oder weniger dasselbe noch einmal mit einem SEIR-Modell (Parameter R0=3,8; alpha=1/3; gamma=1/7; beta=R0*gamma).

Mit diesen Parametern passen die Ergebnisse des SEIR-Modells recht gut zu den gemeldeten Infektionszahlen aus Deutschland vom Anfang März 2020 (die schwarzen Datenpunkte sind 55 Tage ab dem 1. März 2020). Das gewählte R0 von 3,8 ist vielleicht etwas hoch gegriffen, andererseits nennt das RKI in seinem Corona-Steckbrief inzwischen 3,3 bis 3,8 als Basisreproduktionszahl.

Die rote Linie ist die Anzahl der Menschen in Deutschland, die sich bis zum Zeitpunkt infiziert haben („I+R“). Man sieht, dass nach diesem Modell sich fast die gesamte Bevölkerung infiziert hätte. Das Szenario ist aufgrund der rigiden Eindämmungsmaßnahmen zum Glück nicht eingetreten, wie man an den sich abflachenden schwarzen Datenpunkte sieht. Die folgende magentafarbene Kurve zeigt die Anzahl der gleichzeitig Infizierten („I“).

Ohne die Maßnahmen wäre es, diesem Modell zufolge, zu mehr als 10 Millionen Corona-Kranken gleichzeitig gekommen, und das nur 70 Tage nach dem 1. März. Das ist das Szenario mit überfüllten Krankenhäusern, vor dem das RKI im März gewarnt hatte.

Dieses Szenario ist übrigens (neben der höheren Sterblichkeit bei Corona und möglichen Spätfolgen) ein entscheidender Unterschied zur Grippe. (Übrigens kann auch die Grippe Spätfolgen haben.) Das RKI schätzt, dass sich an der Grippe jährlich „nur“ zwischen 5 und 20 Prozent der Bevölkerung infizieren – auch ohne Gegenmaßnahmen (wie etwa Masken). Der Grund ist, dass aus den Erkrankungen der Vorjahre eine gewisse Grundimmunität gegen Grippeviren in der Bevölkerung vorliegt. Diese ist beim neuartigen Coronavirus offenbar nicht vorhanden. Aber weiter im Text.

Inzwischen weiß jedes Kind, dass R<1 gut wäre. Die Lockerungen und (wichtiger noch) das aktuelle Verhalten der Menschen (Reisetätigkeit, Maskendisziplin, App-Nutzung, …) führt aber offenbar zu einem R>1. Was würden ein dauerhaftes R=1,2 bedeuten?

Hier die Ergebnisse des SEIR-Modells für R=1,2. Die rote Kurve ist die Anzahl derer in Deutschland, die sich bis zu einem Zeitpunkt infiziert haben (also wieder „I+R“).

Und die magentafarbene Kurve ist die der gleichzeitig Infizierten („I“).

Es fällt zunächst auf, dass die x-Achse einen viel größeren Zeitraum umfasst. Statt 70 Tage dauert es nun mehr als 400 Tage bis zum Maximum der Epidemie. Das bringt immerhin Zeit für die Entwicklung von Impfungen, Medikamenten, Filteranlagen, organisatorischen Lösungen oder anderen neuen wirksameren Maßnahmen.

Und: „Nur“ etwas mehr als 30 Prozent der Bevölkerung infiziert sich im Laufe der Epidemie, also etwa 25 Millionen Menschen in Deutschland. Auch die Anzahl der gleichzeitig infizierten ist um eine Größenordnung geringer – das berühmte „flatten the curve“.

Das heisst wohl: Wer aktuell vorsichtiger als der Durchschnitt der Menschen, hat bei einem (hoffentlich weiterhin) niedrigen Wert von R gute Chancen, eine Ansteckung ganz zu vermeiden! In Anbetracht der möglichen Spätzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung ist das eine gute Nachricht. Es lohnt sich also, vorsichtig zu sein.

Zur Klarstellung: Noch besser wäre natürlich ein R<1.

Nachtrag (25.8.2020): Was bedeutet es, wenn sich über die etwas mehr als zwei Jahre insgesamt 30% der Bevölkerung an SARS-CoV-2 infizieren und 10% der Bevölkerung gleichzeitig (kurz nach Tag 400) krank ist? – Das sind (etwas gerundet) die Zahlen, die bei R=1,2 vom Modell geliefert werden (s.o.)

Das RKI nennt aktuell in seinem Corona-Steckbrief (Stand des Dokumentes: 21.8.2020) für Deutschland eine (in der Rückschau berechnete) Hospitalisierungsrate von 17% (entsprechend 1,4 Millionen Menschen bei 8,2 Millionen gleichzeitig Erkrankten). Das RKI schätzt weiter, dass davon etwa 8% auf die Intensivstation müssen, was etwa 1,4% der Erkrankten entspricht, die gleichzeitig ein Intensivbett benötigen (das wären mehr als 100000). Diese Zahl liegt deutlich höher als die aktuell ca. 10000 verfügbaren Intensivbetten in Deutschland; hier ist der jeweils aktuelle Stand des Intensivregisters zu finden. Insgesamt gibt es nach Intensivregister ca. 30000 Intensivbetten in Deutschland.

Geht man von einer Gesamtsterblichkeit von 0,5% aus (die der Virologe Christian Drosten einmal geschätzt hatte) führen die über den gesamten Zeitraum von mehr als 2 Jahren summierten insgesamt 25 Millionen Erkrankten zu etwa  120000 Corona-Toten. Der Virologe Hendrik Streeck war in seiner Studie zu einer Sterblichkeit von 0,37% gekommen, was noch 90000 Corona-Toten entsprechen würde.

16.10.2020: Korrekturen im letzten Abschnitt. Die Zahlen dort bezogen sich auf eine andere Rechnung und zusätzlich waren Tippfehler drin.

21. August 2020 – Oliver Rheinbach

Corona: Wie sterilisiert man Masken, die man nicht waschen kann? Eine Regressionsaufgabe.

Nachtrag (19.11.2020): Inzwischen gibt es auf dem deutschen Markt durchaus Anbieter von FFP2 bzw. CPA-Masken (Schnellzulassungsverfahren in Anlehnung an FFP2). Das ist auch das Verdienst von mittelständischen Unternehmen. Etwa produzieren einige Automobilzulieferer in Süddeutschland CPA-Masken, und ein Vlieshersteller produziert in Sachsen Masken, die inzwischen CPA-zertifiziert sind. FFP2-Masken namhafter westlicher Medizintechnikhersteller kosten aktuell ca. 6 bis 8 Euro das Stück (nach bis zu 20 Euro im Sommer, falls überhaupt lieferbar). CPA-Masken aus deutsche Produktion kosten aktuell ca. 3 Euro. Nachdem im Sommer fernöstliche KN95 Masken in Europa für 5 bis 10 Euro verkauft wurden, kosten Sie inzwischen ein Bruchteil davon. Allerdings gibt es dabei viele Fälschungen, wie man dem (furchtbar unübersichtlichem) europäischen Produktwarnsystem RAPEX immer wieder entnehmen kann. Das gilt ebenso für fernöstliche Masken, die angeblich FFP2-Masken sind, tatsächlich den Standard aber nicht einhalten.

Beitrag vom 21.08.2020: Bei Alltagsmasken reicht bekanntermaßen das Waschen in der Waschmaschine mit Vollwaschmittel (enthält Natriumpercarbonat, landläufig als Sauerstoffbleiche bekannt); aber wer auf FFP2/KN95/N95-Masken angewiesen ist, um sich zu schützen (etwa vor Ansteckung durch die Luft über Aerosole), steht vor derselben Frage wie die Gesundheitssysteme vieler Länder (darunter die USA und Deutschland): Wie lange kann man FFP2/KN95/N95-Masken verwenden und wie kann man sie nach einem Einsatz sterilisieren?

Die Empfehlungen des RKI (Mögliche Maßnahmen zum Ressourcen-schonenden Einsatz von Mund-Nasen-Schutz (MNS) und FFP-Masken, Stand des Dokumentes 14.04.2020, gültig bis 31.08.2020) vermeidet Hinweise zur Nutzungsdauer und zur Sterilisation: „[Bei der Wiederverwendung ist zu beachten, dass] benutzte Einweg-FFP Masken/MNS nicht mit Desinfektionsmittel zu reinigen oder zu desinfizieren sind, da dies die Funktionalität der Maske negativ beeinflussen kann„. In der Tat raten deutsche Hersteller vor der Sterilisation (wohl auch aus Haftungsgründen) ab.

Die amerikanische Seuchenbehörde CDC hat, aus der Not, deutlich konkretere Vorschläge. Es ist bekannt, dass die Filterleistung von FFP/KN95/N95-Masken mit der Benutzung absinken kann, so dass die Masken anschließend nicht mehr sicher sind (allerdings ist eine solche Maske sehr wahrscheinlich auch dann noch sicherer als Alltagsmasken; s.u.). Die CDC empfiehlt (für amerikanische N95-Masken) unter Krisenbedingungen die Wiederverwendung (limited re-use) von N95-Masken mit einer summierten maximalen Nutzungszeit von 8 bis 12 Stunden (Abschnitt „Extended use of N95 Respirators“; zuletzt am 23.11.2020 geupdated):

When practicing extended use of N95 respirators, the maximum recommended extended use period is 8–12 hours. Respirators should not be worn for multiple work shifts and should not be reused after extended use.

Das bedeutet für den privaten Gebrauch, dass man die Maske durchaus wiederverwenden kann. Am Ende eines Tages sollte die Maske dann einige Tage in einer Papiertüte (keine Plastiktüte!) gelagert werden, damit eine eventuelle Virenlast sich langsam abbaut (oder ein paar Tage an einen Haken aufhängen). Auf porösem Material dauert das Abbauen der Viren aber wahrscheinlich mehrere Tage. Wenn man jeden Tag Schutz braucht, braucht man mehrere FFP2/KN95/N95-Masken zum Rotieren. Die Rotationsstrategie (mit einer Maske für jeden Wochentag) ist in der aktuelle Corona-Krise als eine der „Crisis Capacity Strategies (during known shortages)“ (im Abschnitt „Limited Re-use of N95 respirators“) von der US-amerikanische Seuchenbehörde CDC für medizinisches Personal (!) vorgeschlagen worden:

Each respirator will be used on a particular day and stored in a breathable paper bag until the next week. This will result in each worker requiring a minimum of five N95 respirators if they put on, take off, care for them, and store them properly each day. This amount of time in between uses should exceed the 72 hour expected survival time for SARS-CoV2 (the virus that caused COVID-19).

 

Bleibt die Frage nach einer möglichen Desinfektion nach einem Einsatz, wenn man nicht 72 Stunden auf das „Absterben“ des SARS-CoV-2-Virus warten möchte (oder wenn man ganz sicher gehen will).

Der amerikanische Goldstandard zur Desinfektion von N95-Masken in den USA ist „vaporized hydrogen peroxide (VHP)“ (Wasserstoffperoxid-Dampf); diese Technik hat in den USA eine Sondergenehmigung  zur Dekontamination von Masken bekommen. Sie steht allerdings in Europa kaum zur Verfügung.

Es geht aber auch mit Low-Tech: In den deutschen Medien relativ präsent (auch nachdem Karl Lauterbach den Artikel getwittert hat) ist ein wissenschaftlicher Artikel aus den USA, der zeigt, dass eine N95-Maske in einem Reiskocher (ohne Wasser!) sterilisiert werden kann. Titel des Artikels ist „Dry Heat as a Decontamination Method for N95 Respirator Reuse“, Hintergrund ist, dass in vielen amerikanischen Haushalten Reiskocher und ähnliche Geräte zur Verfügung stehen. Ein Zyklus im trockenen Reiskocher bedeutet nach den Messungen der Experimentatoren, dass die Maske trockener Hitze von etwa 100 Grad für eine Stunde ausgesetzt ist. Die Masken müssen dabei auf einem Handtuch liegen, weil die Bodenplatte des Kochers ohne Wasser deutlich heißer als 100 Grad wird, wodurch die aufliegende Maske schmelzen würde. Wichtig ist, dass im Artikel auch getestet wurde, dass das betrachtete N95-Modell (3M 1860) die Prozedur auch mehrmals ohne Beeinträchtigung der Filterleistung übersteht. Übrigens kann man sich nicht ganz sicher sein, ob der Reiskocher die Prozedur (ohne Wasser!) öfters übersteht – ein Trockenbetrieb ist ziemlich sicher außerhalb der Designparameter.

Allerdings: Die getestete N95-Maske ist von hoher Qualität und (wie andere N95-Masken) in Europa in der aktuellen Krisenlage praktisch nicht erhältlich. Masken nach europäischem FFP2-Standard müssen immerhin 70 Grad überstehen, sie überstehen aber wahrscheinlich auch 100 Grad. „Echte“ FFP2-Masken von westlichen Herstellern sind aber aktuell weltweit ebenfalls schwer erhältlich. Erhältlich sind chinesische KN95-Masken, die oft etwas zarterer Bauart sind. (Bei vielen mit FFP2 oder N95 gekennzeichneten Masken, die online angeboten werden, dürfte es sich in Wahrheit um Fälschungen handeln oder, so kann immerhin hoffen, um KN95-Masken.) In jedem Fall mag der eine oder andere Nutzer Zweifel haben, ob seine KN95-Maske die 100-Grad-Prozedur (für eine Stunde!) mehrmals übersteht. (Nachtrag 17.01.2021: Inzwischen bekommt man Marken-FFP2-Masken aus westlicher Produktion in Deutschland, die dem getesteten Modell äquivalent sind.)

Die gute Nachricht ist: Es reicht wahrscheinlich auch 70 Grad Hitze (bei hoher Virenlast ist mehr als eine Stunde nötig!), um die Hülle des SARS-CoV-2-Virus zu zerstören, wie dieser Preprint darstellt (Testmodell war eine 3M Aura 9211+). Titel des Artikels ist „Assessment of N95 respirator decontamination and re-use for SARS-CoV-2“.

Nachtrag (17.01.2021): Wer sicher gehen will , sollte 80 Grad wählen. Allerdings sind Backöfen in der Einhaltung der eingestellten Temperatur wohl nicht sehr verlässlich. Deswegen findet man in den Medien auch den Tipp, ein Bratenthermometer zur Temperaturmessung dazu zulegen. Mehr als 100 Grad sollte man aber nicht einstellen, weil etwa die Gummibänder ziemlich sicher leiden werden. Und die beste Filterleistung des Maske nützt nichts, wenn sie nicht dicht sitzt.

Wo ist nun die Regressionsaufgabe? Da der Artikel unter Creative-Common-CC0-Lizenz steht, kann ich hier die wichtigste Abbildung des Artikels wiedergeben (Robert Fischer, Dylan H Morris, Neeltje van Doremalen, Shanda Sarchette, Jeremiah Matson, Trenton Bushmaker, Claude Kwe Yinda, Stephanie Seifert, Amandine Gamble, Brandi Williamson, Seth Judson, Emmie de Wit, Jamie Lloyd-Smith, Vincent Munster: Assessment of N95 respirator decontamination and re-use for SARS-CoV-2, https://doi.org/10.1101/2020.04.11.20062018):

Es sind leider relativ wenig Datenpunkte, aber die Autoren haben dennoch eine Regression vorgenommen (siehe Abbildung). Die Daten sind auf Github (https://github.com/dylanhmorris/n95-decontamination) und OSF (https://osf.io/mkg9b/). Allerdings habe ich die Messwerte zur Abbildung (insbesondere die Virus-Titerdaten) auf die Schnelle dort nicht gefunden. Möglicherweise haben die Autoren erst einmal nur die Daten zu den Versuchskonfigurationen hochgeladen. Jedenfalls können wir hier die Regression nun leider nicht nachrechnen.

Die dargestellten Ergebnisse zeigen aber, dass eine halbe Stunde im 70-Grad-Ofen die Anzahl der Viren um den Faktor 100 reduziert (zweite Spalte; „Heat“). Als dekontaminiert wurde die Maske nach einer Stunde im 70-Grad-Ofen angesehen, womit eine Reduktion der Viren um den Faktor 10000 erreicht wurde. Nach dem Modell der Autoren reduziert übrigens auch eine kurze Erhitzung die Virenlast (allerdings entsprechend weniger).

Behandlung mit 70-prozentigem Alkohol (erste Spalte; „Ethanol“) wirkt auch gut, zerstört aber schon nach zweimaliger Anwendung die Filtereigenschaften der Maske – ohne dass das sichtbar sein muss. Alkohol ist zur Dekontamination also nicht empfohlen.

Allerdings leiden die Masken auch unter der Behandlung mit 70 Grad Hitze: „Fit factors are a measure of filtration performance: the ratio of the concentration of particles outside the mask to the concentration inside. The measurement machine reports value up to 200. A minimal fit factor of 100 (red dashed line) is required for a mask to pass a fit test.“ Dies bedeutet nach den obigen Abbildung, dass man die Maske etwa dreimal mit Hitze behandeln kann, bevor man sie entsorgen (oder für noch schlechtere Zeiten in einer Papiertüte aufbewahren) sollte.

Offenbar leiden die Masken auch einfach an Ihrer Verwendung, wie man an der Spalte „Control“ sehen kann; diese Masken wurden zum Vergleich nicht behandelt.

Nachbemerkung zur Wichtigkeit von Masken: Forscher der ETH Zürich haben bei Betrachtung der Rohdaten eines einflussreichen Nature-Artikels chinesischer Forscher einen  Fehler in der Datenanalyse gefunden (veröffentlich am 5.8.2020). Offenbar ist SARS-CoV-2 wesentlich früher ansteckend als gedacht, nicht erst 2 bis 3 Tage vor den ersten Symptomen. Dies hat auch weltweite Folgen für die Nachverfolgungsprozeduren die auf den Nature-Artikel basieren (auch die des RKI in Deutschland):

Our reanalysis suggests that tracing contacts of infected index cases as far back as 2 or 3 days before symptom onset in the index case might not be sufficient to find all secondary cases.

Stattdessen finden viele Ansteckungen bis zu 4 Tage vor Eintritt der ersten Symptome statt:

the corrected distribution tells us we need to look back at least 4 days to catch 90% of presymptomatic infections.

Auch nach der Korrektur bleibt es dabei, dass über 40 Prozent der Ansteckungen durch Menschen geschieht, die selbst noch keine Erkrankungssymptome spüren, denen die Erkrankung also erst recht nicht anzusehen ist:

We also found a presymptomatic infection fraction of 45.6% (95% CI 23.8–75.8%) using the He et al. [1] method and 43.7% (95% CI 26.4–64.5%) using the corrected profile.

Aber vielleicht kann ja ein Hund die SARS-CoV-2-Infektion riechen. Ansonsten bleibt im Zweifel zum Schutz nur Abstand halten, Maske tragen und die Corona-Warn-App.

Noch eine Bemerkung: Hier ein einführender Artikel der CDC zu Masken für medizinisches Personal. Diese Kurzgegenüberstellung von OP-Masken und N95 -Masken (entsprechend FFP2 bzw. KN95) macht auch deutlich, dass die Dichtheit der Maske wesentlich ist, um vor Aerosolen zu schützen. Vor Tröpfchen schützt dagegen schon die einfache OP-Maske. Letzteres gilt, in Abhängigkeit der der Dichtheit des Gewebes, auch für eine Stoffmaske. Ein Beispiel: die waschbare Textilmaske, die ein deutscher Textilhersteller in der Coronakrise entwickelt hat,  ist als Medizinprodukt (d.h. als OP-Maske, nicht als FFP-Maske) zertifiziert. Es handelt sich dabei um ein Laminat aus drei Lagen, die zusammen einen sehr dichten Stoff ergeben. Wenn man diesen Stoff gegen das Licht hält, kann man keine Löcher erkennen – anders als bei üblichen  Alltagsmasken.

Nachtrag 17.01.2020: Da nun eine bundesweite Pflicht zu FFP2-Masken im Bus und Bahn und im Supermarkt im Raum steht, ist die Frage der Wiederverwendung von FFP2-Masken noch relevanter geworden. Dazu ist auch zu bemerken: Damit die FFP2-Maske (für den Träger und für andere) wirksam ist, muss sie dicht sitzen, genau gesagt dürfen nur etwa 8% des Luftstroms um die Maske herum gehen. Eigentlich müsste jede(r) Träger mal einen Fit-Test machen (ein Riechtest mit einer vernebelten Testsubstanz, etwa Saccharin), um zu verstehen, wann eine Maske wirklich dicht sitzt.

Allerdings: Wenn ich zur Zeit durch die Stadt gehe, fällt mir schon bei den Alltagsmasken nur eine Bemerkung ein: „Jeden Tag lerne ich neue Methoden, Masken so zu tragen, dass sie unwirksam sind.“ Ach ja: Und Vollbartträger können die FFP2-Maske gleich weglassen, die Luft geht sowieso durch den Bart und nicht durch die Maske.

Nachtrag (23.01.2021): Inzwischen hat die Fachhochschule Münster aufgrund eigener Untersuchungen eine Handlungsempfehlung zur Sterilisation von FFP2-Masken online gestellt. Kurz lautet diese: 80 Grad trockene Hitze – mit Bratenthermometer zur Überprüfung der Temperatur. Die wissenschaftliche Publikation zum Thema soll in einigen Monaten folgen.

Der Hersteller 3M befürchtet für seine Masken, dass Erhitzen über 75 Grad (Stand des Dokumentes September 2020) die Filtereigenschaften beeinträchtigen könnte. 70 Grad Hitze müssen FFP2-Masken allerdings gemäß Standard aushalten!

 

03. August 2020 – Oliver Rheinbach

Wer stirbt in Deutschland an Corona?

Die besprochenen S(E)IR-Modelle unterscheiden nicht zwischen geheilten und verstorbenen Infizierten. Die Anzahl der Verstorbenen wird erst im Nachhinein als Anteil der Personen im Status „R“ berechnet. Doch welchen Zahlenwert soll man als Anteil nehmen? Wenn man die Hospitalisierungsrate von SARS-CoV-2-Infektionen kennt, hilft die folgende Studie weiter.

Eine neue Studie in Lancet Resp Med  hat nun für Deutschland für den Zeitraum vom 26.02.2020 bis 19.04.2020 die Daten von 10021 erwachsenen Covid-19-Krankenhauspatienten genauer angeschaut.

Von den 10021 Covid-19-Patienten, die in Krankenhaus kamen, mussten 17% beatmet werden, darunter deutlich mehr Männer als Frauen. Interessanterweise waren davon grob ein Viertel 18 bis 59 Jahre alt, ein weiteres Viertel 60 bis 69 Jahre, ein weiteres 70 bis 79 Jahre und das letzte Viertel über 80. Genauer:

„Of 10 021 hospitalised patients being treated in 920 different hospitals, 1727 (17%) received mechanical ventilation (of whom 422 [24%] were aged 18–59 years, 382 [22%] were aged 60–69 years, 535 [31%] were aged 70–79 years, and 388 [23%] were aged ≥80 years).“

Insgesamt starben 2229 der 10021 Patienten. Wer erst einmal beatmet wurde, hatte eine Überlebenschance von 47 Prozent.

Verschiedene Medien, darunter Scinexx, haben die Studie zusammengefasst.

Langzeitfolgen spielten in der Untersuchung keine Rolle.

Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung werden (naturgemäß) erst nach und nach sichtbar und wissenschaftlich untersucht, NTV zitiert den Studienleiter Stefan Schreiber mit den Worten: „Ein 30-Jähriger könnte nach zehn Jahren die Organe eines 60-Jährigen haben, fürchtet er – auch bei leichten Verläufen“. Auch an anderer Stelle wurde über bleibende Schäden (am Herzen), auch bei leichten Verläufen, berichtet.

Eine gute Nachricht dagegen: Eine Studie in Lancet weist auf eine deutliche Schutzwirkung sogar von einfachen OP-Masken hin (wovon man in Asien allerdings schon lange überzeugt ist, auch aus der Erfahrung mit SARS-1):

The use of face masks was protective for both health-care workers and people in the community exposed to infection.

Gemeint sind hier auch einfache OP-Masken („surgical masks“), die nicht den Standards FFP2 (Europa), N95 (USA), oder KN95 (China) („respirators“, „personal protective equipment – PPE“) entsprechen. Allerdings schützen N95-Masken (analog FFP2 oder KN95) besser:

[…] masks in general are associated with a large reduction in risk of infection from SARS-CoV-2, SARS-CoV, and MERS-CoV but also that N95 or similar respirators might be associated with a larger degree of protection from viral infection than disposable medical masks or reusable multilayer (12–16-layer) cotton masks.

Siehe auch die Pressemitteilung und eine Zusammenfassung von NTV.

Bemerkung (13.8.2020): Dies ist auch deswegen bedeutsam, weil es offenbar nur eine einzige randomisierte Studie zum Thema Behelfsmasken (Stoffmasken) gibt. Und die Ergebnisse dieser Studie deuten daraufhin, dass medizinisches Personal sich nicht auf Baumwollmasken verlassen sollte – sie werden offenbar in manchen Ländern von medizinischem Personal eingesetzt, wo Einweg-OP-Masken schlecht verfügbar sind.

Bemerkung: Die Schutzwirkung von OP-Masken (und auch von FFP2/N95/KN95-Masken) basiert auf einem Filtervlies, das den Luftstrom einerseits gut durchlässt, andererseits nur sehr feine Löcher hat. Dagegen kann man bei (gewebten oder gestrickten) Baumwoll-Behelfsmasken meist kleine Löcher sehen, wenn man sie gegen das Licht hält. Natürlich kann man nun viele Lagen Baumwollstoff übereinander legen, aber dann wird der Atemwiderstand größer, so dass die Gefahr besteht, dass viel Luft um die Maske herum geht, statt hindurch. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im obigen Artikel  „multilayer (12–16-layer) cotton masks“ als Ersatz für OP-Masken genannt werden.

Die Schutzwirklung von FFP2-Masken basiert wesentlich auf ihrer Passform: Es geht nur wenig Luft um die Maske herum, genauer gesagt, darf die Gesamtleckage (Undichtigkeit) nur 8% betragen. Dazu muss die Maske allerdings auch gut passen.

Fazit: Wer sicher gehen will, weil er oder sie sich zu einer Risikogruppe zählt, sollte weiterhin auf FFP2- oder KN95-Masken zurückgreifen. Masken nach dem amerikanischen N95-Standard sind in Deutschland aktuell kaum zu bekommen.

Die Studie gibt nun aber erstmals wissenschaftliche Hinweise, dass man sich auch durch eine OP-Maske schützen kann – auch wenn die Schutzwirkung geringer ist.

Vielleicht hat also auch eine Baumwoll-Behelfsmaske eine Schutzwirkung. Sicher ist: Eine Brille, zusätzlich zur Maske, hilft zusätzlich.

02. August 2020 – Oliver Rheinbach

Was meint das Robert-Koch-Institut mit dem 7-Tage-R?

Seit dem 16.7.2020 ist das (gegenüber dem Standard-R etwas geglättete) 7-Tage-R (siehe auch hier) für Deutschland oberhalb von 1, hier die Werte:

16.7.20 17.7.20 18.7.20 19.7.20 20.7.20 21.7.20 22.7.20 23.7.20 24.7.20 25.7.20
1,07 1,20 1,34 1,22 1,13 1,08 1,01 1.05 1,16 1,25
26.7.20 27.7.20 28.7.20 29.7.20 30.7.20 31.7.20 1.8.20
1,16 1,10 1,12 1,13 1,17 1,19 1,20

Entsprechend steigen die täglich gemeldeten Infektionszahlen (aktuell wieder bei ca. 1000 am Tag).

Aber was meint das Robert-Koch-Institut mit dem 7-Tage-R? Und wie unterscheidet es sich vom vorher verwendeten R-Wert, den das RKI tagesaktuell gemeldet hat?

Hier erklärt das RKI, wie es seine R-Werte berechnet (leider wird das selten in den Medien erklärt): Der zu Beginn vom RKI ausgewiesene „Standard-R-Wert“ ist

Rt,4=(Et-3+Et-2+Et-1+Et)/(Et-7+Et-6+Et-5+Et-4)

Es werden also einfach die Infektionszahlen von 4-Tage-Intervallen in Relation gebracht.

Das später eingeführte, etwas glattere, 7-Tage-R verwendet immer Summen der Infektionsdaten von 7 Tagen,

Rt,7=(Et-6+Et-5+Et-4+Et-3+Et-2+Et-1+Et)/(Et-8+Et-7+Et-9+Et-8+Et-7+Et-6+Et-5+Et-4) .

Dabei werden die Summen von heute und von vor 4 Tagen in Relation gebracht.

Oder: Ist E7,t=Et-6+Et-5+Et-4+Et-3+Et-2+Et-1+Et die Summe der Infektionszahlen aus 7 Tagen, dann ist

Rt,7=E7,t/E7,t-4 .

Mit diesen einfachen Formeln kann man nun für vergangene Infektionsdaten das R ausrechnen. Für die aktuellen Zahlen, die auch die Medien tagesaktuell melden, verwendet das RKI allerdings Extrapolation, um Meldeverzug zu korrigieren (Stichwort Nowcast). Relativ sicher sind die Meldezahlen erst nach etwa einer Woche, weil die Gesundheitsämter Infektionen oft erst nach Tagen an das RKI melden.

Der 7-Tage-R-Wert ist etwas glatter als das Standard-R, was Vorteile vor allem bei niedrigen Fallzahlen (wenige Hundert und weniger) hat, wo Rauschen in den Daten sichtbar wird. Für beide R-Werte gilt: Sind sie längere Zeit oberhalb von 1, liegt exponentielles Wachstums vor. Bei einem R deutlich über 1 gerät die Lage dann in kurzer Zeit außer Kontrolle.

Bemerkung: Von verschiedenen Medien wird heute gemeldet, dass die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert Meinung ist: „Für eine zweite Pandemie-Welle sind die Gesundheitsämter viel zu knapp besetzt“; die IT-Infrastruktur des Meldewesens scheint dazu immer noch unzureichend zu sein.

Umso wichtiger ist die Corona-Warn-App zur Kontaktverfolgung (und die freiwillige Quarantäne bei einer übermittelten Corona-Warnung). Da sie quelloffen ist, kann jeder überprüfen, was sie tut. Hier sieht man etwa, wie die App Kontakte nach der Länge in Risikostufen einordnet (0 bis 5 Minuten, 5 bis 10 Minuten, 10 bis 15 Minuten, 15 bis 20 Minuten, 20 bis 25 Minuten, 25 bis 30 Minuten und mehr als 30 Minuten; bei längeren Kontakten wird nicht mehr unterschieden).

 

18. Juli 2020 – Oliver Rheinbach

Begriff der „zweiten Welle“

Wir haben schon besprochen, dass die Reduktion von R auf der Kombination von vielen Maßnahmen beruht (Abstandhalten, Mundschutz – auch über der Nase (!), Reduktion der Anzahl von Kontakten, Lüften, schnelle klassische Nachverfolgung durch die Gesundheitsämter, freiwillige Quarantäne nach Warnung durch die Corona-App, Verbot oder Vermeidung von Großveranstaltungen, etc.). Gleichzeitig rücken in den Medien Langzeitschäden (auch bei jungen, ansonsten gesunden Menschen) einer Covid-19-Erkrankung in den Fokus, die eine Durchseuchungstrategie nicht ratsam erscheinen lassen. Darunter sind Nierenschäden, die lange unentdeckt bleiben können (Referenz wird nachgereicht).

Hier einige Berichte auf Scinexx, die Links zu Originalveröffentlichungen enthalten:

In diesem Zusammenhang wird in den Medien auch der Begriff der „zweiten Welle“ (im Sinne einer Warnung) verwendet. Der Begriff hat seine Schwierigkeiten, die schon damit beginnen, dass unklar ist, wie er definiert werden soll. Auch provoziert er Nachfragen wie: „Wieviele Wellen kann es denn geben?“.

Allerdings zeigen die aktuellen Infektionsdaten aus Israel tatsächlich eine deutliche „zweite Welle“ (Abbildung vom Corona-Dashbord der Johns-Hopkins-Universität):

Den Medienberichten nach scheint diese „zweite Welle“ ein Ergebnis von Lockerungsmaßnahmen und zurückgehender Disziplin in der Bevölkerung zu sein.

Das sichtbare Rauschen in den Daten ist dabei eine stetige Erinnerung, dass die Daten fehlerbehaftet sind.